Februar 2018

Traude Novy: Abgewirtschaftet versus sich in die Gestaltung unserer Welt einmischen

In meiner Kindheit meinte man, wenn man von „So einer Wirtschaft“ sprach, eine große häusliche Unordnung, in Bayern bezeichnet man mit dem Wort Wirtschaft noch immer ein gemütliches Wirtshaus – aber mit der Zeit haben wir uns daran gewöhnt, dass „Wirtschaft“ etwas ist, womit sich nur einige wenige „Eingeweihte“ befassen und was mit unserem ganz normalen Leben eigentlich nichts zu tun hat. „Werch ein Illtum“ würde Ernst Jandl sagen.

Der Staat schafft keine Beschäftigung?

Einige Ereignisse der letzten Wochen haben mir wieder deutlich gemacht, dass unser biblischer Anspruch auf Gerechtigkeit unmittelbar danach verlangt, uns intensiv mit Wirtschaft, ihren Ausdrucksformen und Auswirkungen intensiv zu beschäftigen. Denn eingeengtes ideologisches Denken verstellt den Blick auf die Wirklichkeit.

Da behauptet z.B. unsere Sozialministerin vor den Abgeordneten des Parlaments, dass staatliche Beschäftigungsprogramme Ausdruck anachronistischen kommunistischen Denkens wären, weil der Staat eben keine Beschäftigung schaffen könne.

Wie muss das auf Stadtplanerinnen, Bauarbeiter, Eisenbahner wirken, die öffentliche, mit Steuergeld finanzierte Infrastrukturprogramme umsetzen? Wie auf Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Ärztinnen und Krankenpfleger im öffentlichen Dienst? Wie auf alle Beamtinnen und Beamte, die unser im Großen und Ganzen doch gut funktionierendes Gemeinwesen verwalten? Sie alle sind von Investitionen der öffentlichen Hand abhängig, sie alle zahlen Steuern, investieren und konsumieren und tragen so zum erfolgreichen Wirtschaftsstandort Österreich bei.

Der Haushalt als Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft

Den Begriff Wirtschaft auf den schmalen Bereich der privaten For Profit Wirtschaft einzugrenzen, verfälscht das Bild, das eine erfolgreiche Volkswirtschaft abgibt. Ebenso wird im staatlichen Bereich, in dem großen Sektor der Non Profit Ökonomie gewirtschaftet, ja und der einzelne Haushalt, von dem das Wort Ökonomie ja abstammt, ist die Grundlage dafür, dass Wirtschaft insgesamt funktionieren kann. Nicht zu vergessen ist auch der zumeist unterbelichtete Teil der illegalen bis kriminellen Wirtschaft an den wir alle wissentlich oder unwissentlich immer wieder zumindest anstreifen.

Noch deutlicher wird es, wenn wir den Blick auf die sogenannte Care-Ökonomie richten, also jenen Teil der Wirtschaftsleistungen, die in hohem Maße unbezahlt und vorwiegend von Frauen erbracht wird.

Damit die For Profit Wirtschaft überhaupt funktionieren kann, braucht es als Voraussetzung die Fürsorge, Versorgung, Bildung, Reinigung und Pflege. Dieser Teil der Wirtschaft funktioniert aber nach völlig anderen Regeln als die sich immer wieder beschleunigende industrielle und digitale Wirtschaft. Diese Arbeit ist zumeist umso besser, je mehr Zeit dafür zur Verfügung steht. Hier geht es nicht um Konkurrenz sondern um eine gute Kooperation.

Kosten der Arbeit in der Realwirtschaft

Da Industrie- und digitale Arbeit immer billiger, weil rationalisierbar wird, steigen die Kosten der Arbeiten an und mit Menschen. Aber diese Arbeit macht unser Leben erst lebenswert. Denn wir Menschen sind nicht unabhängige Einzelwesen, sondern wir sind unser Leben lang voneinander abhängig. Das muss als Tatsache zur Kenntnis genommen werden. Deshalb sollte der Staat seine Steuern nicht vorwiegend aus der Besteuerung von Arbeit beziehen, sondern seine Einnahmen auf digitale und industrielle Wertschöpfung und Vermögen umlenken.

Solange die Care-Ökonomie aber nicht als wichtiger Teil der Wertschöpfung, sondern als Kostenfaktor gesehen wird, der vor allem das Sozialbudget belastet, wird es nicht zu einer gerechten Wertschätzung und Bezahlung dieser Arbeiten kommen und auch die gerechte Verteilung dieser Tätigkeiten zwischen Frauen und Männern bleibt Illusion.

Wirtschaft als Krypto-Illusion

Aber es tun sich in letzter Zeit noch andere Fallen auf. Jetzt wird nicht allein mehr von der „Finanzindustrie“ gesprochen, die ja, wie die Finanzkrise deutlich zeigte,  mit echter Industrie nichts gemein hat, sondern es werden auch Bitcoins „geschürft“, so als ginge es dabei um vorhandene Bodenschätze und nicht um nur in den Fantasien der handelnden Personen imaginierte Werte.

Die sprachliche Vortäuschung realer Werte soll Seriosität vermitteln. Aber hier ist nicht einmal das vorhanden, was Goldgräber immer schon motiviert hat, das Unmögliche zu wagen, nämlich wenigstens ein Stäubchen echte Grundlage.

Nachhaltige Wirtschaft nur durch verantwortliches Handeln

Am letzten Sonntagvormittag sprach der Filmemacher Werner Boote über seinen neuesten Film „Green lies“. Darin zeigt er auf, wie Konzerne auf das Bedürfnis der Kundinnen nach Nachhaltigkeit aufspringen, ohne eine echte Umkehr zu einer ökologisch verträglichen Produktion anzugehen. Die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch die Palmölproduktion ist da ein eindrucksvolles Beispiel. Die Perversität auch von solch gut gemeinten Sendungen zeigte sich daran, dass zwischendurch Werbung eben auch für Großkonzerne geschaltet wurde.

Aber Werner Boote hat schon recht, durch einen fairen und echt nachhaltigen Konsum allein werden wir die Industrie nicht zum Umdenken bringen, dazu ist das System zu mächtig und vernetzt, dafür braucht es ein Handeln der Politik mit Vorschriften und Regeln. Die werden aber ohne einen sich in Wahlergebnis niederschlagenden Druck aus der Bevölkerung nicht kommen.

Um ein gutes Leben aller Menschen anstreben zu können und zur Behütung der Schöpfung halte ich es als eine wichtige Christenpflicht, sich in die Gestaltung unserer Welt einzumischen. Grundvoraussetzung des Einsatzes für mehr Gerechtigkeit in unserem Land und weltweit ist es daher, sich mit den Fragen der Wirtschaft intensiver auseinanderzusetzen und den enggeführten Wirtschaftsbegriff der For Profit-Lobbyisten zu erweitern.

Traude Novy
Bloggerin

Die Entfremdung des Menschen: Die christlich-soziale Wurzel ist tot.

Am 22. Februar 2018 veranstaltete die Initiative „Christlich geht anders“ und der Kath. AkademikerInnenverband Wien im Otto-Maurer-Zentrum in Wien eine Podiumsdiskussion zum Thema „Solidarische Antworten auf die soziale Frage Welche Antworten gibt die neue Regierung darauf?“. Der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister diskutierte mit Wirtschaftskammer-Vertreter Rolf Gleißner über das neue Regierungsprogramm. Die Moderation führte ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner. 

Vorweg: Die Diskussion wurde sehr kontroversiell geführt und vom Publikum teilweise sehr emotional mitgetragen. In ihrer Einleitung wies Magdalena Holztrattner darauf hin, dass das Regierungsprogramm insgesamt 180 Seiten umfasse, darin seien ungefähr 25 Seiten dem Thema Fairness und Gerechtigkeit zugeordnet, und hier wieder vier Seiten dem Thema Soziales und Konsumentenschutz.

Gleißner: Regierung gibt richtige Antworten

Rolf Gleißner, stellvertretender Abteilungsleiter für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer Österreich, betonte, dass das neue Regierungsprogramm durchaus die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft gebe. „Im Vergleich mit anderen Ländern in Westeuropa steht Österreich sehr gut da“, sagte der Wirtschaftskammer-Vertreter, und nannte auch Beispiele: Die Einkommen seien gleichmäßig verteilt und hätten sich relativ stabil entwickelt; die absolute Armut habe sich seit 2008 fast halbiert, die Armutsgefährdung sei unterdurchschnittlich. Die Mindestsicherung sei auf einem wesentlich höheren Niveau als in Deutschland. Österreich könne einen lückenlosen Sozialstaat vorweisen. Doch: „Natürlich hat der Sozialstaat Schwächen und muss angepasst werden an die Zukunft“, so Gleißner. „Die Kehrseite ist natürlich, dass ein Sozialstaat auch teuer ist.“ Die Abgabenquote von rund 43 Prozent sei sehr hoch; die Hälfte der Staatseinnahmen gehe in das Sozialsystem. Die Österreicherinnen und Österreicher gingen auch relativ früh in Pension, das sei „eine Schwäche des Sozialstaats“. Gleißner: „Wir haben einen relativ hoher Anteil von Beziehern von Mindestsicherung, vor allem in Wien. Und wir haben eine extrem hohe Regelungsdichte in Österreich.“ Das Regierungsprogramm gebe hier die richtigen Antworten. „Das fängt an beim Thema Arbeitszeit, wo wir als Wirtschaftskammer uns mehr Flexibilität wünschen. Es gibt Handlungsbedarf im Bereich Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestsicherung – auch dort muss man einige Anpassungen vornehmen. Wir wollen nicht den Sozialstaat in Frage stellen, aber man darf nicht jedes Detail für sakrosankt erklären.“

Schulmeister: Im Neoliberalismus verliert Solidarität ihren Wert

Anderer Meinung ist hingen Stephan Schulmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und Mitinitiator der Initiative „Christlich geht anders.“ Er sieht, dass sich seit den 70er-Jahren die Ideologie des Neoliberalismus immer mehr durchgesetzt hat. Diese Ideologie „geht von der Vorstellung aus, der Mensch ist in seinem Wesen nur ein Individuum, das eigennützig und rational ist“, so der Wirtschaftsforscher. Dieses Menschenbild wirke sich jetzt bis ins kleinste Detail in die aktuelle Politik und damit auch auf das aktuelle Regierungsprogramm aus. Schulmeister im O-Ton: „Wenn der Mensch nur ein eigennütziges Wesen ist, dann hat Solidarität keinen Wert mehr.“

Die Prinzipien des Neoliberalismus und der katholische Soziallehre stünden in diametralen Gegensatz. Die Krise Europas, die sich nach Schulmeisters Ansicht noch vertiefen wird, „liegt in der Entfremdung der Menschen von dem, was eigentlich unsere Grundwerte und unsere über Jahrhunderte gewachsene Lebensgewohnheiten sind“. Doch Europa schwächt die Sozialstaatlichkeit Schritt für Schritt – und das seit 30 Jahren. „Dieses Regierungsprogramm unterstütze diese Tendenz vehement“, weist Schulmeister darauf hin. Und weiter: „Ich habe mir die inhaltlichen Punkte angesehen wie Kürzung des Arbeitslosengeldes, der Mindestsicherung insbesondere für Flüchtlinge, ich sage, das ist ein richtig neoliberalistisches Programm, das nachmacht, was in anderen Ländern schon vorexerziert wurde.“ Das Bedrückendste für ihn aber sei, dass dieses Programm federführend von einer Partei ausformuliert und durchgesetzt wurde, die über Jahrzehnte eine christlich-soziale Wurzel hatte. Schulmeister: „Diese Wurzel ist tot.“

Auch die Zukunftsaussichten wurden von den beiden Experten unterschiedlich bewertet; während Stephan Schulmeister eine „Vertiefung der Finanzkrise“ befürchtet, hält Rolf Gleißner eine „Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung“ für möglich.

„Christlich geht anders“ ist ein breites Bündnis von sozial engagierten ChristInnen, kirchlichen (Laien-)Organisationen (darunter die Ordensgemeinschaften Österreich) und AmtsträgerInnen sowie Hilfsorganisationen der Zivilgesellschaft.

rsonnleitner

Von den 120 BesucherInnen kamen Rückfragen auf hohem wirtschafts- und sozialpolitischem Niveau. Das zentrale Interesse betraf die Arbeitsmarktpolitik. Finanzmarktpolitik und Europa waren ebenso Aspekte in der Diskussion. Das Publikum brachte zusätzlich Themen zur Sprache, wie Chancen am Arbeitsmarkt für ältere Menschen, menschenwürdiges Dasein, Umverteilung von unten nach oben, menschenverachtender Umgang mit Arbeitslosen und Flüchtlingen, etc. Von den Experten am Podium wurden auch sehr unterschiedliche Zukunftsbilder gezeichnet, über mögliche/wahrscheinliche kommende Krisen (Vertiefung der Finanzkrise) von Schulmeister, wohingegen Gleissner zuversichtlich eine Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung für möglich hält.

Begrüßung: Gabriele Kienesberger (Kath. Arbeitnehmer/innenbewegung Wien, KAB)
Moderation: Magdalena Holztrattner (Kath. Sozialakademie Österreich, ksoe)

Hans Peter Hurka: Christlich geht anders, weil …

Anerkennung und Achtung der gleichen Würde aller Menschen, Hilfe denen, die Hilfe brauchen zu gewähren, ehrlich und offen allen Menschen zu begegnen, gerechter Lohn und faire Preise sowie ein gemeinschaftsfördernder Umgang mit Eigentum gehören zum Kern der christlichen Botschaft.

Dementsprechend verhindert eine christlich geprägte Gemeinschaft Entsolidarisierung, Ausbeutung von Mensch und Natur, Diskriminierung oder Leistungsprämissen, die menschliches Leben schädigen und Hilfe erst nach vorangehender Leistung gewähren. Anhäufen von Eigentum für ausschließlich eigene Interessen, Sparen auf Kosten anderer stehen dem Prinzip des Teilens im Wege. Wer diejenigen abweist die hilfesuchend bitten schädigt nicht nur diese, sondern die ganze Gemeinschaft.

Glück und Heil sind nur im wohlwollenden vertrauensvollen Miteinander und nicht im übertrumpfenden, ruinösen Wettbewerb zu erreichen.

So gut wie alle Religionen kennen die „goldene Regel“. In der Feldrede schreibt Lukas: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“ (Lk 6,31) Auch im Islam gilt: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“

Es ist jene Form der Wahrheit, aus der Gottes Weisheit und Wille spricht. „Leben und leben lassen“ ist dafür nicht nur eine kurz gefasste Volksweisheit, sondern hat sich auch als gute, praktische Richtschnur bewährt.

Trotzdem erleben wir: Nachbarn kennen einander nicht, geflüchtete Menschen werden als Bedrohung erlebt, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes nimmt zu. Der Druck am Arbeitsplatz steigt, die Kosten für den Lebensunterhalt oder für die eigene Krankheitsbehandlungen ebenso. Reaktionen darauf sind, dass viele das zusammenhalten versuchen was sie haben, um für Veränderungen gewappnet zu sein. Solche Individuallösungen haben aber wenig Chancen die befürchtete Not abzuwenden.

„Christlich geht anders“! Wer dem Beispiel Jesu folgt ist offen für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, sozialer Stellung oder Religionszugehörigkeit. Wer mehr hat gibt dem der es braucht, individuell und gesellschaftlich. Neiddebatten, unbedingtes Streben nach dem eigenen Vorteil, Ausnützen der Allgemeinheit, gegenseitiges Aufrechnen, herabwürdigende Äußerungen oder Handlungen etc. dürfen keinen Platz finden. Dafür sind alle Christinnen und Christen in unserem Land verantwortlich.

Niemand hat das Recht, einem anderen Menschen Lebenschancen vorzuenthalten. Was ich bin, habe oder kann ist nicht nur meine eigene Leistung, sondern auch das Ergebnis aus dem Wohlwollen meiner Mitmenschen. Deshalb habe ich es so einzusetzen, damit andere Menschen in Gerechtigkeit, Frieden und mit Freude leben können. Gerade angesichts der neuen Bundesregierung und in Zeiten, wo viele sich selbst oder „ihr“ Land zuerst gereiht sehen wollen ist mit großer Aufmerksamkeit darauf zu achten, dass unsere Demokratie weiterentwickelt und nicht ausgehöhlt wird, Sozialleistungen den Schwächeren ausreichend zur Verfügung gestellt und nicht nur generell gekürzt werden, und die Wohlhabenderen mit jenen teilen, die zu wenig haben um menschenwürdig mit uns zu leben.

Jeder Einzelne und jede Gemeinschaft, sei sie kirchlich, kommunal, regional, bundesweit oder weltweit kann nur gewinnen, wenn sie sich daran orientieren. Rezepte gibt es, umgesetzt müssen sie werden!

Hans Peter Hurka
Sprecher des Netzwerks: zeitgemäß glauben
www.zeitgemaess-glauben.at

Christoph Konrath: Das Regierungsprogramm und die Bundesverfassung

Hindernisse und Umwege

Im Wahlkampf 2017 und während der Regierungsverhandlungen wurde immer wieder die Befürchtung geäußert, dass eine ÖVP-FPÖ-Koalition einen vollständigen Umbau der Staatsorganisation durchführen werde. Am Beispiel Ungarns oder Polens wurde auf die Gefahren von maßgeblichen Verfassungsänderungen hingewiesen. Solche Änderungen haben in den letzten Jahren tatsächlich in Ungarn stattgefunden. In Polen werden sie vorbereitet, aber es ist unklar, ob es derzeit die erforderlichen Mehrheiten dafür geben würde.

Im Programm der neuen Bundesregierung werden viele Maßnahmen angeführt, aber die Vorschläge für Änderungen der Bundesverfassung (und nur mit solchen könnte eine grundlegende Veränderung der Staatsorganisation vorgenommen werden) beschränken sich auf einige eher unzusammenhängende und nicht näher ausgeführte Punkte unter der Überschrift „Moderner Verfassungsstaat“ (S. 21). Diese reichen von der Schuldenbremse in der Verfassung, über die Evaluierung der parlamentarischen Abläufe, über das Recht auf Bargeld, ein Staatsziel Wirtschaftswachstum bis zur Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung. Das sind alles Themen, die auf Vorschläge der nunmehrigen Koalitionspartner aus den letzten Jahren zurückgehen. Zu manchem finden sich da nähere Ausführungen, aber insgesamt bleibt es sehr offen.

Weitere Maßnahmen, die Änderung der Bundesverfassung voraussetzen, betreffen die Verbesserung und Neuordnung der Kompetenzverteilung (also der Zuständigkeiten zur Gesetzgebung in bestimmten Fragen) zwischen Bund und Ländern. Auch das ist nicht weiter neu und findet sich praktisch (freilich mit unterschiedlichen Schwerpunkten) in allen Regierungsprogrammen seit den 1990er-Jahren.

Was aber auffällt ist, wie über die Bundesverfassung selbst im Regierungsprogramm gesprochen wird.

Im Vorwort wird das „Fundament“ genannt, auf dem die neue Regierung tätig werden will: „[Es] setzt sich zusammen aus der österreichischen Verfassung, der immerwährenden Neutralität, den Grundprinzipien der Europäischen Union, aber auch den Grund- und Menschenrechten, den bürgerlichen Freiheiten sowie den Rechten von Minderheiten.“

Diese Aussage klingt selbstverständlich. Auffallend ist, dass hier und an vielen anderen Stellen des Regierungsprogramms allgemein von der österreichischen „Verfassung“ die Rede ist. Damit ist wohl die Bundesverfassung gemeint, aber nur einmal im gesamten Regierungsprogramm und zwar im Kapitel über Kultur wird sie ausdrücklich so bezeichnet. Das mag pedantisch klingen, aber es kann auch ein Hinweis darauf sein, wie unbestimmt die Vorstellungen von Politikerinnen, Politikern und ihren Stäben im Hinblick auf Verfassung und Verfassungsrecht in Österreich sind. Das zeigt sich auch darin, dass neben der „Verfassung“ die Neutralität, Grundprinzipien der EU, Grund- und Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Rechte der Minderheiten genannt werden. Das sind jedoch alles Regelungen, die zum Kernbestand von Verfassungsrecht im Allgemeinen und in Österreich ganz besonders zählen.

Mehr über die „Verfassung“ kommt erst im Kapitel über Integration. Dort heißt es: „Von jenen Personen, die rechtmäßig und dauerhaft in unserem Land leben, wird eingefordert, dass sie sich aktiv um ihre Integration in die Gesellschaft und ihr Fortkommen bemühen sowie unsere verfassungsmäßig verankerten Werte hochhalten. Nur auf dem Fundament dieser gemeinsamen Wertebasis kann ein friedliches Zusammenleben funktionieren. Erst das Leben dieser Werte ermöglicht eine erfolgreiche Integration in Österreich.“ (S. 37)

Interessant ist, dass „Verfassung“ hier nur im Zusammenhang mit „Werten“ erwähnt wird, die von jenen eingefordert werden, die „rechtmäßig“ hier leben. Das ist bemerkenswert, denn die österreichische Bundesverfassung zeichnet sich seit jeher durch ihre Rechtsförmlichkeit aus. Werte waren bisher ihre Sache nicht.

Die konflikthafte Ausgangssituation der Republik führte zu einer Einigung auf eine oft als „Spielregelverfassung“ bezeichnete Handlungsgrundlage. Es ging darum, klare und transparente Regelungen für die Handlungs- und Gestaltungsmacht der einzelnen Staatsorgane und deren Kontrolle zu schaffen. Der Spielraum für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen sollte möglichst klar abgrenzbar sein.

Mit ihrem Bekenntnis zu „verfassungsmäßigen Werten“ gerade an dieser Stelle reiht sich die Bundesregierung in eine Entwicklung ein, die wir seit einigen Jahren beobachten können. An die Stelle der als problematisch wahrgenommenen Debatten über eine „Leitkultur“ ist die Forderung eines Bekenntnisses zur jeweiligen Verfassung getreten. Dahinter steht zunächst die Erinnerung daran, dass der säkulare und freiheitliche Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern keine Überzeugungen oder gar Werte vorschreiben könne. Vielmehr bilde seine Verfassung die Grundlage für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Sie garantiere die Rechte jeder und jedes Einzelnen und lege den Rahmen fest, in dem diese und der Staat handeln sollen. Das ist ein universalistischer Ansatz, der in jedem Staat konkretisiert werden muss. Das ist dann aber weniger eine Aufgabe der Verfassung selbst als ihrer Vermittlung.

Allerdings lässt sich dieser universalistische Ansatz auch umdrehen. Nämlich dann, wenn davon ausgegangen wird, dass Verfassungsrecht, Demokratie und Menschenrechte nur im Westen oder in einem bestimmten Staat unter bestimmten Bedingungen entstanden sind, und daraus geschlossen wird, dass es einer bestimmten kulturellen Grundierung braucht, um sie überhaupt verstehen und gebrauchen zu können. Dann spricht man zwar von „verfassungsmäßigen Werten“ meint aber „Leitkultur“.

Das Regierungsprogramm lässt eine nähere Erläuterung offen. Die Tendenz scheint mir aber – nicht zuletzt aufgrund des konkreten Kontexts der Erwähnung – klar erkennbar.

Allerdings stellt sich dann die Frage, welche Werte nun in Österreich „verfassungsmäßig“ seien. Im sogenannten Bundes-Verfassungsgesetz, dem Hauptdokument der Bundesverfassung, kommen „Werte“ genau einmal vor. In Artikel 14 Absatz 5a werden sie im Rahmen der Aufgaben der Schulen genannt.

Weder im Text noch in der Diskussion über die Bundesverfassung haben Werte bislang eine große Rolle gespielt. Das hängt mit der bereits erwähnten Entstehungsgeschichte, der lange dominierenden betont nüchternen Zugangsweise der Rechtswissenschaft in Österreich aber vor allem mit dem instrumentellen Verständnis von Verfassungsrecht in der Politik gerade auch der 2. Republik zusammen. Die Verfassung war und ist demnach ein Gesetz, für das man größere Mehrheiten braucht, mehr nicht. Verfassungsrecht war selten etwas Bedeutsames oder Hervorgehobenes, mit dem man (wie in anderen Staaten) sorgsam umging. Kein anderer Staat der Welt regelt soviel Behördenorganisation wie Österreich in seiner Verfassung. Verfassungsbewusstsein wurde in Österreich kaum je gefördert, und während andere Staaten ihre „Verfassungsurkunde“ prominent ausstellen liegt unsere im Keller des Staatsarchivs. Und diese Einstellung zeigt sich an den meisten anderen Stellen des Regierungsprogramms. Verfassungsänderungen dienen dort dem Effizienzgewinn.

Dieser Befund sollte aber nicht zu vorschnellen Urteilen verleiten. Wertediskussionen in der Politik sind, wie hier schon angeklungen ist, aus vielen Gründen problematisch. Aber die Frage, was die Grundlagen unserer Bundesverfassung sind, was mit ihr angestrebt wurde und welche Bedeutung sie für unser Zusammenleben in Verschiedenheit hat, die muss gestellt werden. Heute wohl mehr denn je.

Was die österreichische Bundesverfassung (trotz allem) auszeichnet, ist die Klarheit und Nüchternheit in ihren Grundlagen, die, wie es Hans Kelsen in seinen demokratietheoretischen Schriften dargelegt hat, auf Gleichheit, Freiheit, Verständigungsbereitschaft und Kompromiss abzielen. Was die Bundesverfassung auszeichnet ist ihre Offenheit und Anschlussfähigkeit. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Menschenrechte und ihrem Fokus auf Gleichberechtigung, der unbedingten Sicherung der Würde jedes Menschen und der politischen Freiheit. Nicht ohne Grund hat Gerald Stourzh am österreichischen Beispiel das Konzept der Grundrechtsdemokratie entwickelt und auf ihre Fragilität hingewiesen. Gerade davon ist im Regierungsprogramm aber nicht die Rede.

Es ist schwierig, einzelne Vorschläge im Regierungsprogramm aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beurteilen. Sie sind oft sehr weit und unbestimmt, und selbst wenn sie detaillierter gefasst sind, bleibt sehr viel offen. Das haben schon zahlreiche Diskussionen und Einschätzungen gezeigt.

An dem, wie aber schon jetzt vor allem über die Rechte von Asylsuchenden, Behördenorganisation oder „Verfahrensbeschleunigung“ diskutiert wird, kann man abschätzen, was kommen kann. Es geht gar nicht so sehr darum, die Bundesverfassung zu ändern (dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit, die nicht so leicht zu bekommen sein wird). Es geht vielmehr darum, wie mit dem, was eigentlich aus der Verfassung folgen sollte, umgegangen wird, wie es in Frage gestellt wird, und wie ausprobiert wird, ob man in der Öffentlichkeit durchkommt und wie lange es dauert, bis es eine Angelegenheit vor den Verfassungsgerichtshof schafft. Den Vorwurf des Verfassungsbruchs kann man kontern, nicht zuletzt mit Kalauern wie „drei Juristen, fünf Meinungen“. Gerade weil es so wenig Bewusstsein für die Verfassung und Wissen über sie gibt, mache ich mir Sorgen, dass die notwendigen – ich sag es jetzt mit einem großen Wort – „geistigen“ Grundlagen der Bundesverfassung untergraben werden. Mit diesen Grundlagen meine ich nicht die  Sicherung  von Werten, sondern die Verankerung von durchsetzbaren Rechten, die Beziehungen zwischen Menschen regeln und jeden Menschen als Rechtssubjekt anerkennen. Mit den Grundlagen meine ich nicht den Schutz der Ordnung, sondern die Sicherung von Verfahren, die Transparenz und vor allem Zeit für Verständigung und Kompromissfindung garantieren.

Das kann abschließend an drei Beispielen konkret werden:

Auf S. 21 wird ohne nähere Erläuterung die „Verankerung der Menschenwürde […] in der Verfassung“ vorgeschlagen. Diese Forderung geht auf den Österreich-Konvent zurück, wo sie aus verschiedenen Gründen – auch von konservativer Seite – zurückgewiesen wurde. Zum einen sind die Menschenrechte Ausgestaltung der Würde, zum anderen ist ein solcher Artikel anfällig für politische Instrumentalisierung. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, was es bedeutet, einerseits die Würde des Menschen zu betonen, aber dann durchgängig Menschen primär nach Herkunft und Leistung zu beurteilen.

Die Freiheitsrechte werden an mehrere Stellen betont. Zugleich wird aber jenes Grundrecht, das historisch und programmatisch die Grundlage für gesellschaftlichen, religiösen und politischen Pluralismus in Europa darstellt, die Religions- und Gewissensfreiheit in Frage gestellt. Das geschieht im Zusammenhang mit dem Islam in Österreich, dem etwa mit dem Ausbau des sogenannten Kultusamts zu einer Religionsbehörde mit umfangreichen Kontrollbefugnissen begegnet werden soll (S. 38).

Nach dem Regierungsprogramm, den ersten Entscheidungen über den Jahreswechsel und die Regierungsklausur soll die Regierungstätigkeit vor allem durch eines geprägt sein: Schnelligkeit. Jetzt kann man darüber streiten, ob das in Österreich gehen wird. Entscheidend ist aber, was hier vermittelt wird: Diskussionen, Abstimmungen, Verfahren (vor Gericht oder in Parlamenten) halten auf. Das ist auch sicher in vielen Fällen zutreffend, und viele von uns wünschen sich, dass wichtige Themen nicht aufgehalten, sondern in Angriff genommen werden. Aber wenn alles „schnell und effizient“ gehen muss, dann wird das, was eine demokratische Verfassung als Sicherungen und Begrenzungen eingebaut hat, nur mehr als lästig und unnötig wahrgenommen.

Christoph Konrath
Jurist und Politikwissenschaftler, Mitglied im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft und engagiert für die politische Bildungsinitiative www.unsereverfassung.at