Die Entfremdung des Menschen: Die christlich-soziale Wurzel ist tot.

Am 22. Februar 2018 veranstaltete die Initiative „Christlich geht anders“ und der Kath. AkademikerInnenverband Wien im Otto-Maurer-Zentrum in Wien eine Podiumsdiskussion zum Thema „Solidarische Antworten auf die soziale Frage Welche Antworten gibt die neue Regierung darauf?“. Der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister diskutierte mit Wirtschaftskammer-Vertreter Rolf Gleißner über das neue Regierungsprogramm. Die Moderation führte ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner. 

Vorweg: Die Diskussion wurde sehr kontroversiell geführt und vom Publikum teilweise sehr emotional mitgetragen. In ihrer Einleitung wies Magdalena Holztrattner darauf hin, dass das Regierungsprogramm insgesamt 180 Seiten umfasse, darin seien ungefähr 25 Seiten dem Thema Fairness und Gerechtigkeit zugeordnet, und hier wieder vier Seiten dem Thema Soziales und Konsumentenschutz.

Gleißner: Regierung gibt richtige Antworten

Rolf Gleißner, stellvertretender Abteilungsleiter für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer Österreich, betonte, dass das neue Regierungsprogramm durchaus die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft gebe. „Im Vergleich mit anderen Ländern in Westeuropa steht Österreich sehr gut da“, sagte der Wirtschaftskammer-Vertreter, und nannte auch Beispiele: Die Einkommen seien gleichmäßig verteilt und hätten sich relativ stabil entwickelt; die absolute Armut habe sich seit 2008 fast halbiert, die Armutsgefährdung sei unterdurchschnittlich. Die Mindestsicherung sei auf einem wesentlich höheren Niveau als in Deutschland. Österreich könne einen lückenlosen Sozialstaat vorweisen. Doch: „Natürlich hat der Sozialstaat Schwächen und muss angepasst werden an die Zukunft“, so Gleißner. „Die Kehrseite ist natürlich, dass ein Sozialstaat auch teuer ist.“ Die Abgabenquote von rund 43 Prozent sei sehr hoch; die Hälfte der Staatseinnahmen gehe in das Sozialsystem. Die Österreicherinnen und Österreicher gingen auch relativ früh in Pension, das sei „eine Schwäche des Sozialstaats“. Gleißner: „Wir haben einen relativ hoher Anteil von Beziehern von Mindestsicherung, vor allem in Wien. Und wir haben eine extrem hohe Regelungsdichte in Österreich.“ Das Regierungsprogramm gebe hier die richtigen Antworten. „Das fängt an beim Thema Arbeitszeit, wo wir als Wirtschaftskammer uns mehr Flexibilität wünschen. Es gibt Handlungsbedarf im Bereich Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestsicherung – auch dort muss man einige Anpassungen vornehmen. Wir wollen nicht den Sozialstaat in Frage stellen, aber man darf nicht jedes Detail für sakrosankt erklären.“

Schulmeister: Im Neoliberalismus verliert Solidarität ihren Wert

Anderer Meinung ist hingen Stephan Schulmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und Mitinitiator der Initiative „Christlich geht anders.“ Er sieht, dass sich seit den 70er-Jahren die Ideologie des Neoliberalismus immer mehr durchgesetzt hat. Diese Ideologie „geht von der Vorstellung aus, der Mensch ist in seinem Wesen nur ein Individuum, das eigennützig und rational ist“, so der Wirtschaftsforscher. Dieses Menschenbild wirke sich jetzt bis ins kleinste Detail in die aktuelle Politik und damit auch auf das aktuelle Regierungsprogramm aus. Schulmeister im O-Ton: „Wenn der Mensch nur ein eigennütziges Wesen ist, dann hat Solidarität keinen Wert mehr.“

Die Prinzipien des Neoliberalismus und der katholische Soziallehre stünden in diametralen Gegensatz. Die Krise Europas, die sich nach Schulmeisters Ansicht noch vertiefen wird, „liegt in der Entfremdung der Menschen von dem, was eigentlich unsere Grundwerte und unsere über Jahrhunderte gewachsene Lebensgewohnheiten sind“. Doch Europa schwächt die Sozialstaatlichkeit Schritt für Schritt – und das seit 30 Jahren. „Dieses Regierungsprogramm unterstütze diese Tendenz vehement“, weist Schulmeister darauf hin. Und weiter: „Ich habe mir die inhaltlichen Punkte angesehen wie Kürzung des Arbeitslosengeldes, der Mindestsicherung insbesondere für Flüchtlinge, ich sage, das ist ein richtig neoliberalistisches Programm, das nachmacht, was in anderen Ländern schon vorexerziert wurde.“ Das Bedrückendste für ihn aber sei, dass dieses Programm federführend von einer Partei ausformuliert und durchgesetzt wurde, die über Jahrzehnte eine christlich-soziale Wurzel hatte. Schulmeister: „Diese Wurzel ist tot.“

Auch die Zukunftsaussichten wurden von den beiden Experten unterschiedlich bewertet; während Stephan Schulmeister eine „Vertiefung der Finanzkrise“ befürchtet, hält Rolf Gleißner eine „Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung“ für möglich.

„Christlich geht anders“ ist ein breites Bündnis von sozial engagierten ChristInnen, kirchlichen (Laien-)Organisationen (darunter die Ordensgemeinschaften Österreich) und AmtsträgerInnen sowie Hilfsorganisationen der Zivilgesellschaft.

rsonnleitner

Von den 120 BesucherInnen kamen Rückfragen auf hohem wirtschafts- und sozialpolitischem Niveau. Das zentrale Interesse betraf die Arbeitsmarktpolitik. Finanzmarktpolitik und Europa waren ebenso Aspekte in der Diskussion. Das Publikum brachte zusätzlich Themen zur Sprache, wie Chancen am Arbeitsmarkt für ältere Menschen, menschenwürdiges Dasein, Umverteilung von unten nach oben, menschenverachtender Umgang mit Arbeitslosen und Flüchtlingen, etc. Von den Experten am Podium wurden auch sehr unterschiedliche Zukunftsbilder gezeichnet, über mögliche/wahrscheinliche kommende Krisen (Vertiefung der Finanzkrise) von Schulmeister, wohingegen Gleissner zuversichtlich eine Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung für möglich hält.

Begrüßung: Gabriele Kienesberger (Kath. Arbeitnehmer/innenbewegung Wien, KAB)
Moderation: Magdalena Holztrattner (Kath. Sozialakademie Österreich, ksoe)

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