Sebastian Pittl: Für Christus, Volk und Vaterland?

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Die politische Theologie neurechter Bewegungen

Sebastian Pittl skizziert geschichtliche und ideologische Hintergründe und Wurzeln von aktuellen rechtsextremen Gruppierungen und Bewegungen. In der französischen Nouvelle Droite rund um ihre Gallionsfigur Alain de Benoist (*1943) findet er Anknüpfungspunkte, aber auch Kritikmöglichkeiten. Und er blickt auf die Querverbindungen zum Christentum.

Das Wiedererstarken nationalistischer und rechtsextremer Gruppierungen und Tendenzen stellt zweifellos eine der wichtigsten Herausforderungen gegenwärtiger europäischer Gesellschaften dar. Von Russland über Ungarn bis hin zur AfD oder dem Front national verbindet sich diese Entwicklung dabei mit dem Rückgriff auf christliche Motive. Dies ist offensichtlich in der Allianz zwischen Wladimir Putin und hohen Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche, in der Präambel der ungarischen Verfassung, die mit Bezug auf den Heiligen Stephan Ungarn als christliche Nation inszeniert, aber auch in den Bezügen auf die „abendländisch-christliche Kultur“ der AfD oder der engen Verflechtung von katholischen Traditionalisten im Umkreis der Piusbruderschaft mit dem Front National Marine Le Pens.

Signifikante ideologische Veränderungen

Die neurechten Bewegungen in Europa sind ein äußerst heterogenes und oft sogar widersprüchliches Phänomen. Dennoch gibt es über die verschiedenen ideologischen Grenzen hinweg einen Austausch von Ideen und Begriffen sowie länderübergreifende Allianzen. Kritiker*innen dieser Bewegungen (auch aus der Theologie) übersehen häufig die signifikanten ideologischen Veränderungen, die innerhalb dieses Milieus während der letzten Jahrzehnte zu beobachten sind. Dadurch werden gewisse Stereotype von den Rechten reproduziert, die eine konstruktive Auseinandersetzung und effektive Kritik erschweren.

Auf intellektueller Ebene hatte die französische Nouvelle Droite rund um ihre Gallionsfigur Alain de Benoist (*1943) in den letzten Jahrzehnten eine Vorreiterrolle. Ihre Strahlkraft reicht dabei von der Lega Nord in Italien über Vlaams Belang in Belgien bis hin zum russischen Vordenker des neuen Konservativismus Aleksandr Dugin, dem ein entscheidender Einfluss auf Zirkel rund um Wladimir Putin nachgesagt wird.[1]

Pioniere für einen Weg jenseits der drei „Totalitarismen“

Die Nouvelle Droite hat ihre Wurzeln in der von Benoist 1968 mitgegründeten GRECE (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne), einem neorechten Thinktank. Benoist und der Nouvelle Droite gelang es durch rhetorische Distanzierung von der „alten Rechten“ sowie durch Verwendung einer politisch korrekten, d. h. antirassistischen, antifaschistischen und pro-demokratischen Sprache, die Rechte aus ihrer Isolation herauszuführen und gesellschaftlich wieder salonfähig zu machen. Benoist und seine Weggefährten knüpfen dabei an Denker der sogenannten „Konservativen Revolution“ (Armin Mohler) wie Carl Schmitt, Ernst Jünger oder Julius Evola an, in denen sie Pioniere für einen Weg jenseits der drei „Totalitarismen“: Faschismus, Sozialismus und egalitären Liberalismus erblicken.

Starke medienwirksame Bilder, die sich dem kollektiven Gedächtnis einprägen sollen

Erstaunlich ist, wie Benoist sich auch zahlreiche „linke“ Theoretiker*innen zu eigen macht. So knüpft Benoist etwa an Antonio Gramsci, den italienischen Marxisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, um die entscheidende Bedeutung des Kampfes um kulturelle Hegemonie, d. h. um die Begriffe und Bilder, die den öffentlichen Diskurs und Vorstellungs- und Wertewelt der Individuen prägen, zu betonen. Wirkmächtig aufgegriffen wird dies derzeit von rechtsextremen Jugendbewegungen wie der Casa Pound in Italien oder der „Identitären Bewegung“ in Österreich und Deutschland.[2] Diese von manchen auch als „rechte Hippster-Bewegung“ charakterisierte Gruppe versucht über professionelle Medienarbeit im Internet sowie durch Protestformen, wie sie traditioneller Weise eher von linken Bewegungen bekannt sind, möglichst große Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ziel ist es, starke medienwirksame Bilder zu erzeugen, die sich dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft einprägen sollen. Zum Repertoire dieser Form der „Metapolitik“ gehören effektvolle Störaktionen von Veranstaltungen (Vorträge, Theateraufführungen) oder die Besetzung von Hörsälen und Parteizentralen, aber auch Musikvideos und „Theoriearbeit“.

Begriff „Ethnopluralismus“ anstelle der Rassenideologie der Alten Rechten

Die „Identitären“ berufen sich mit Benoist auf „Ethnopluralismus“. Der Begriff tritt bei Benoist an die Stelle der Rassenideologie der Alten Rechten. Auf dem Globus gibt es demnach unterschiedliche ethnokulturelle Gruppen mit je eigener Identität und einem je eigenen Wertesystem. Keine der Kulturen sei dabei der anderen über- oder untergeordnet, zerstörerisch sei jedoch die Vermischung dieser Kulturen, da sie die Menschen ihrer konkreten, gewachsenen Identität berauben würde. Migration und die durch die Vorherrschaft des derzeitigen kapitalistischen Systems erzwungene Uniformisierung der Menschheit sind daher entschieden abzulehnen. Die Ideologie der „Egalität“, d. h. der abstrakten Gleichheit aller Menschen ungeachtet ihrer Kultur und Geschichte, wie sie sich z. B. in den Menschenrechten spiegle, dient für Benoist nur der Legitimation des liberal-kapitalistischen Systems. Sie ist Ausdruck derselben Nivellierung von Differenz. Diese zu verteidigen, so das postmodern inspirierte Mantra Benoists, sei die Kernaufgabe der neuen Rechten.

Interessanterweise verabschiedet sich die Nouvelle Droite in den letzten Jahren auch vom Nationalismus. In einem Manifest, das Benoist mit Charles Champetier um die Jahrtausendwende verfasste[3], heißt es, die Nation sei einerseits zu groß, um den alltäglichen Herausforderungen der Menschen gerecht zu werden, andererseits zu klein, um globalen Herausforderungen gewachsen zu sein. An Stelle der Nation sollte ein starkes Europa treten mit einer lebendigen Pluralität regionaler, in sich jedoch möglichst homogener Identitäten.

Zu all dem gesellt sich eine entschieden pro-demokratische Rhetorik, allerdings nicht im Sinne der „liberalen“, repräsentativen Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung und dem Parteienapparat, sondern als direkte, plebiszitäre Demokratie. Carl Schmitt scheint Pate zu stehen, wenn darauf hingewiesen wird, dass eine solche Demokratie nur in relativ homogenen Gesellschaften funktionieren könne. Dies ist der ideologische Hintergrund, vor dem etwa auch die Forderungen der FPÖ oder AfD nach mehr direkter Demokratie und einer stärkeren Berücksichtigung des „Volkes“ zu verstehen sind.[4]

Faktor „Religion“ kommt in dieser ideologischen Atmosphäre eine entscheidende Bedeutung zu

Aus theologischer Sicht gilt es auf die entscheidende Bedeutung zu verweisen, die dem Faktor „Religion“ in dieser ideologischen Atmosphäre zukommt. Aleksandr Dugin, dessen Rezeption innerhalb der europäischen Rechten inzwischen mit der von Benoist vergleichbar ist, knüpft stark an christliche, und hierbei insbesondere eschatologische Motive an.[5] Für Benoist ist die politische Theologie Carl Schmitts ein entscheidender Bezugspunkt. Hinsichtlich des Christentums scheint die Diagnose Benoists, der auch selber Theologie studierte, jedoch zutreffender als die von Schmitt zu sein. Benoist macht sich die Säkularisierungsthese des evangelischen Theologen Gogarten zu eigen, um zu betonen, dass das jüdisch-christliche Erbe sowohl die Entzauberung der Welt in Gang gesetzt als auch jenes Egalitätsdenken vorbereitet habe, das in den Menschenrechte seinen Ausdruck finde. Anders als Gogarten sieht Benoist hierin jedoch nicht die Ermöglichung einer legitimen Autonomie der Welt sowie die Anerkennung einer irreduziblen Würde des Einzelnen, sondern den direkten Weg in einen zerstörerischen Nihilismus, in dem jedes Bewusstsein für Differenz und Transzendenz verschwunden sei.

Benoist setzt auf ein erneuertes Heidentum

Benoist setzt im Unterschied zu den vielen neurechten Bewegungen, die sich von ihm inspiriert zeigen, zur Rettung der europäischen Identität daher nicht auf das Christentum, sondern – in diesem Punkt den Nationalsozialismus ähnlicher als Schmitt – auf ein erneuertes Heidentum. Seine Gegenüberstellung von Heidentum und Christentum zeigt sich dabei von Nietzsche inspiriert:  „Wir möchten dem Gesetz den Glauben gegenüberstellen, dem Logos den Mythos, der Schuld des Geschöpfs die Unschuld des Werdens, der Anpreisung von Dienst und Bescheidenheit die Legitimität des Willens zur Macht, der Abhängigkeit die Autonomie des Menschen. Wir schätzen das Verlangen höher als die Vernunft, […] das Bild höher als den Begriff, die Heimat höher als das Exil, den Willen zur Geschichte höher als das Ende der Geschichte und den Willen zur Veränderung, der „Ja“ zur Welt sagt, höher als die Negativität und die Verweigerung.“[6]

Man mag es Benoist zu Gute halten, dass er selbst um die Konstruiertheit seines Neuheidentums zu wissen scheint. An anderer Stelle des eben zitierten Buches schreibt er über die ursprüngliche Wahl zwischen jüdisch-christlichem Glauben und Heidentum: „[…] die ursprüngliche Entscheidung bleibt eine Frage der Wahl […], die niemals vollständig die Notwendigkeit ihrer eigenen Postulate beweisen kann. Nichts erspart uns, diese Wahl zu machen […] Die conditio humana zeigt sich im vollen Bewusstsein dieser Berufung. Subjektivität ist daher nichts, was sich verstecken müsste, weil sie subjektiv ist – eben hierin liegt ihre Stärke.“ Hier spricht sich offen aus, was im Kern der Identitätsbestimmungen neurechter Gruppen zu liegen scheint: radikale Subjektivität, ein „Ich bin ich“ bzw. „Wir sind wir“ wie es auch in der Selbstbezeichnung der „Identitären Bewegung“ klar hervortritt.

Gegenwärtige Identitätspolitik und Heilsgeschichte

Dass Benoist dem jüdisch-christlichen Erbe als Basis für eine neurechte Identitätspolitik zu Recht misstraut und in diesem Sinne wohl auch tiefer dringt als andere neurechte Gruppen und Parteien, zeigt sich, wenn man auf eine biblische Stelle blickt, die auf den ersten Blick strukturanalog zu diesem inhaltslosen „Ich bin ich“ zu sein scheint: die Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14. Gott offenbart sich Mose als „ähjä aschär ähjä“ – „Ich bin, der ich bin“ bzw. wohl noch treffender: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Der Kontext dieser Offenbarung verträgt sich jedoch schwerlich mit dem Wunsch nach „klaren und starken Identitäten“[7] der Neuen Rechten: Moses, ein Hebräer mit ägyptischem Namen, Migrant der zweiten Generation, der auch noch aus seinem zweiten Heimatland fliehen muss, weil er einen Sklavenaufseher erschlägt, ist sich selbst und seiner eigenen Herkunft zutiefst entfremdet, als er auf den brennenden Dornbusch trifft. Weder ganz Ägypter noch ganz Hebräer, ist er das, was man in postkolonialer Terminologie eine hybride Existenz nennen würde. Er heiratet, fern von seiner ersten und zweiten Heimat, die Tochter eines midianitischen Priesters und gibt seinem Sohn den bezeichnenden Namen Gershom (Ödgast), denn „ein Fremder bin ich in einem fremden Land geworden“ (Ex 2,22). Hier beginnt das befreiende, Sinn und Identität stiftende Handeln des „Ich werde sein, der ich sein werde“ an Israel. Was bedeutet es im Kontext gegenwärtiger Identitätspolitik, sich in diese Heilsgeschichte einzuschreiben?

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in feinschschwarz.net Theologisches Feuilleton, 12.7.2017

Sebastian Pittl
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt.

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Tamir Bar-On, „Intellectual Right-Wing Extremism – Alain de Benoist’s Mazeway Resynthesis since 2000“, in: Uwe Baceks/Patrick Moreau (Hgg.), The Extreme Right in Europe. Current Trends and Perspectives, Göttingen, 2012, 333–358.

[2] Vgl. Julian Bruhns/Kathrin Glösel/Natascha Strobl, Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster 2014.

[3] Alain de Benoist/Charles Champetier, Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000. Der Text ist online leicht zu finden.

[4] Vgl. die entsprechenden Wahlprogramme.

[5] Vgl. John Cody Mosbey, Political Theology. Aleksandr Dugin and the Fourth Poltical Theory. Working paper, 2017.

[6] Übersetzung aus dem Englischen nach dem online ebenfalls leicht auffindbaren Text von „On being a pagan“. Das Original wurde 1981 in Paris unter dem Titel „Comment peut-on être païen?“ veröffentlicht. Eine deutsche Version erschien unter dem Titel: „Heide sein zu einem neuen Anfang. Die europäische Glaubensperspektive“ (Tübingen 1982).

[7] Vgl. dazu ebenfalls das Manifest von Benoist und Champetier.

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