Oktober 2018

Traude Novy: Die Seele Europas hat es nie gegeben

Neulich war ich bei einer Veranstaltung der wichtigen Initiative „Christlich geht anders“.

Unter dem Titel „Verliert Europa seine Seele“ wurde da von Personen des öffentlichen Lebens über die Rolle Europas in den derzeit bewegten Zeiten gesprochen. Ich merkte, wie mein Unbehagen mit den trotz kritischer Anklänge doch sehr positiven Bild der EU als Friedensprojekt und als Ort des miteinander Gestaltens, zunehmend wuchs. Ich bin zwar keine „glühende“ Europäerin, aber auch ich schätze es, angesichts der Alternativen, in Europa leben zu dürfen. Das enthebt mich allerdings nicht der Aufgabe, auf dieses europäische Bündnis, wie es geworden ist und wie es sich derzeit darstellt, einen kritischen Blick zu werfen.

Wo bleiben die sozialen Rechte?
In der Diskussion wurde festgestellt, dass eine der wesentlichen Säulen auf denen die europäischen Werte beruhen, die Menschenrechte sind. Ich habe allerdings die Sorge, dass dabei sowohl in der EU als auch bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern zumeist an die bürgerlichen Freiheitsrechte wie Gewissens-, Meinungs- und Religionsfreiheit gedacht wird und seltener an die sozialen Rechte, wie dem Recht auf Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Arbeit und an die kulturellen Rechte, wie z.B. Bildung für alle. Die Einlösung dieser sozialen Rechte innerhalb der Staaten der europäischen Union und auch im Verhältnis zu allen Staaten weltweit würde verlangen, dass die soziale Frage mindestens so wichtig genommen würde, wie die vier Grundfreiheiten, auf denen die EU aufbaut, nämlich die Freiheit für Kapital, für Dienstleistungen, für den Warenverkehr und die Personenfreizügigkeit. Denn mehr als von diesen persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten hängt von der Einhaltung der sozialen und kulturellen Menschenrechte das gute Leben der Bürgerinnen und Bürger und auch die Beziehung zu den außereuropäischen Staaten ab.

Konkurrenzkampf in der EU
Ich habe bei der Abstimmung zum Beitritt Österreichs zur EU dagegen gestimmt, obwohl ich ein Vereintes Europa für eine wunderbare Idee gehalten habe. Für mich war aber damals klar, dass diese Europäische Union zu einem neoliberalen Konzept verkommen war und jede Erweiterung die Mitgliedsstaaten nicht zu Überlegungen und Korrekturen bezüglich des zukünftigen Wegs anregen würde, sondern nur zu einem weiter so, nämlich  dazu, ökonomische Liberalisierung, Privatisierungen, Entfesselung des Kapitalmarkts voranzutreiben.  Die Vereinigung der europäischen Staaten führte deshalb im Wirtschaftsbereich nur sehr bedingt zu mehr Kooperation, vor allem entstand ein immer härterer Konkurrenzkampf der Länder untereinander was Steuerschlupflöcher für Konzerne betraf.

Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich
Natürlich gibt es nicht nur schwarz-weiß. Die Umverteilungsmechanismen der EU haben z.B. Irland zu einem wohlhabenden Land gemacht und auch österreichischen Randregionen wie dem Burgenland mehr Wohlstand gebracht, die Gleichstellungsambitionen aus Brüssel haben auch Österreich unter Druck gesetzt, bezüglich Frauengleichstellung mehr zu tun. Aber es ist auch nicht zu leugnen, dass in ganz Europa die Schere zwischen Reich und Arm aufgegangen ist und überall nur ein Teil der Bevölkerung vom wachsenden Wohlstand profitiert hat. Mittlerweile ist es so, dass es die Europäische Union bezüglich ihres sozialen Ungleichgewichst es mit jedem Schwellenland aufnehmen könnte, vergleicht man die reichsten Menschen der EU mit den Ärmsten in Bulgarien, Rumänien, Griechenland und auch mit den Roma in der Slowakei. Die Krise des Jahres 2008 und die Aktivitäten zu deren Bewältigung hat die Kluft nur verstärkt.

Verrohung des Bürgertums = Entsolidarisierung
Man darf sich deshalb über das Erstarken rechtsradikaler Tendenzen in allen EU Ländern nicht wundern. Wenn die Konkurrenz jedes gegen jede als wirtschaftliche Grundlage für Wohlstand gesehen wird, so haben Solidarität mit den Schwachen und Empathie für Menschen die aus Kriegs- und Hungerländern zu uns flüchten, keinen Platz. Der Verrohung des europäischen Bürgertums ging dessen Indoktrination mit einzelkämpferischen Slogans wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ voraus und der Verwässerung solidarischer Absicherungen von Lebenskrisen durch Systeme, bei denen man nur das herausbekommen soll, was man auch eingezahlt hat, bedeuten nichts anderes als Entsolidarisierung. Der Druck zu Liberalisierung und Privatisierung der Infrastruktur und der Grundversorgung wird von den Gremien der EU noch immer auf die staatlichen Vorsorgesysteme ausgeübt. Das Menschenbild eines sich eigenständig und unabhängig verwirklichenden Individuums hat das solidarisch für einander Verantwortung tragende Menschenbild der Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg abgelöst.

Die EU – ein Friedensprojekt?
Gleichzeitig muss man auch die EU als Friedensprojekt relativieren. Maria Katharina Moser hat bei der Veranstaltung über die Seele der EU zu Recht die Erinnerungskultur eingefordert. Ja, es gilt daran zu erinnern, dass der Reichtum Europas auf der Ausbeutung der außereuropäischen Kolonien im 19. Jahrhundert und auch noch auf den ungerechten Handelsstrukturen der einzelnen Mitgliedstaaten und auch der EU mit den Ländern des globalen Südens beruht. Kriege wurden zwar nicht in Kerneuropa geführt, aber an den Rändern. Europa hat dabei nicht immer eine rühmliche Rolle gespielt, ganz abgesehen von den Waffenexporten, durch die diese Kriege erst ermöglicht wurden.

Bürgerkrieg am Balkan von Europa befeuert
Aber es gibt eine besonders schmerzliche Wunde im gegenwärtigen Europa, die noch immer nicht heilen will. Historiker werden einmal die Rolle der EU im Bürgerkrieg am Balkan kritisch beleuchten, aber eines lässt sich jetzt schon sagen. Statt durch massive Wirtschaftshilfe zumindest den Versuch zu machen, Jugoslawien nach Titos Tod zu stabilisieren, taten sich vor allem österreichische Politiker damit hervor, die Auflösung zu beschleunigen. Diesen grauenhaften Bürgerkrieg mitten in Europa hat vor allem meine Generation als traumatisch erlebt, weil die Sicherheit, dass es nach dem Rückfall in die Barbarei des 20. Jahrhunderts  in Europa nie wieder Krieg geben würde, zerbrochen war.

Auf welcher Seite stehen die Kirchen?
Dieser Krieg und die folgenden an den Rändern Europas, haben den Traum von einer friedlicheren Welt zerstört und das Lebensgefühl vieler Menschen grundlegend verändert. Seither ist ein mitleidloser Egoismus in den Staaten dieses Kontinents mehrheitsfähig geworden. Deshalb steht für mich fest, dass es die abstrakte „Seele Europas“ nicht gibt und nie gegeben hat, sondern dass es von der Wiederbelebung der christlichen und humanen Haltung der  Bürgerinnen und Bürger auf diesem Kontinent  abhängen wird, ob wir, wie schon im letzten Jahrhundert, in die Barbarei zurückfallen, oder an der universalen Gültigkeit der Menschenrechte festhalten. Denn wenn immer wieder betont wird, dass die momentane Situation mit der Bestialisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu vergleichen ist, so muss deutlich gesagt werden, dass auch damals Auschwitz erst  am Ende stand und am Anfang die Verrohung der Mittelschicht schleichend  Einzug in die Gesellschaft gehalten hat. Darüber muss klar und deutlich auch in den Kirchen gesprochen werden, wenn wir uns nicht wie schon so oft auf der falschen Seite wiederfinden wollen.

Traude Novy
Bloggerin
22.10.2018

Regina Polak: Keine Partei in Europa betreibt offensive Armutsbekämpfung

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Wien, 06.10.2018 (KAP) Die Armutsfrage wird in der Gesellschaft ausgeblendet, und gewisse Gruppen werden stigmatisiert und beschuldigt, anderen auf der Tasche zu liegen: Das betonten die Pastoraltheologin Regina Polak und Diakoniedirektorin Maria Katharina Moser bei einer Podiumsdiskussion der Initiative „Christlich geht anders“ am Freitagabend in Wien. Auch der ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, Othmar Karas, nahm an der Veranstaltung teil.

Ein jahrzehntelang einseitig geführter Diskurs, der von neoliberaler Ökonomie geprägt war, habe Menschen stets nur über Leistung definiert, so Polak. Dadurch werde eine Stimmung verbreitet, dass sich nur jene gesellschaftliche Anerkennung verdienten, die auch ihren Beitrag leisteten. Dennoch müsste man über Vermögen und gerechte Verteilung sprechen, auch wenn das derzeit „nicht schick“ sei Es sei Aufgabe der Kirche mit ihrer Option für die Armen, deren Situation offensiv zur Sprache zu bringen.

Es gebe keine Partei in Europa, die offensive Armutsbekämpfung betreibe, zeigte die Theologin auf. Stattdessen liege das Hauptaugenmerk darauf, die Armen nicht stärker werden zu lassen. Es gebe aber eine immer größere Schicht von Personen, die ziemlich perspektivlos sei und das auch wisse, und zu dieser Gruppe gehörten auch viele junge Menschen. „Diese Menschen tun sich schwer, ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, und das wahrscheinlich auf längere Zeit. Mein Eindruck ist, dass die Gesellschaft und die politischen Parteien sich damit abfinden“, so Polak.

Othmar Karas äußerte die Sorge, dass sich Europa das Prinzip, die Würde des Menschen als solche anzuerkennen, rauben lasse. Dann habe die Idee Europa allerdings keine Chance mehr, so der Leiter der ÖVP-Delegation. Er selbst sei aber optimistisch, weil die große Mehrheit der Menschen in der Europäischen Union eine handlungsfähigere, effiziente, demokratische EU wollten.

Die Frage sei, ob diese Mehrheit aufstehen werde, „oder ob wir uns von jenen die öffentliche Meinung bestimmen lassen, die am lautesten schreien“. Letztere würden jeden Tag mit der Botschaft „Nationalismus statt Demokratie“ auftreten. Das sei die Herausforderung. „Es liegt an uns Menschen, was wir für richtig halten, auch mehrheitsfähig zu machen“, appellierte Karas.

Er würdigte die Initiative „Christlich geht anders“. Es zeige sich, „dass wir mehr gemeinsam haben, als man vor der Veranstaltung geglaubt hat, und dass es zwischen Glaube, Hoffnung, christlichem Menschenbild und der Idee Europa einen Zusammenhang gibt“. Wenn man miteinander rede, könne der Grundkonsens, den es unter den Menschen gebe, gestärkt werden.

Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, betonte, dass die Diakonie eine „Stimme der Vernunft“ in der Gesellschaft sein möchte. Diese könne sich am besten Gehör verschaffen, „wenn wir über die Themen reden, die die Menschen tatsächlich bewegen“.

Es werde immer wieder gesagt, dass die Menschen Angst vor Asylproblematik und Flüchtlingen haben. „Das hören wir schon manchmal. Wenn man dann genauer ins Gespräch kommt, merkt man, dass das gar nicht die Sorgen und die Ängste sind“, so Moser. Diese würden sich vielmehr auf die eigene Wertschätzung und die eigene soziale Situation beziehen.

Wörtlich sagte die Theologin: „In Gesprächen höre ich zum Beispiel oft ‚Die Ausländer kriegen alles‘, und wenn dann genauer nachgefragt wird, findet man heraus, dass die Person sich selbst vom AMS oder potenziellen Arbeitgebern schlecht behandelt fühlt.“ Es sei wichtig, sich nicht auf allgemeine populistische Worthülsen einzulassen, sondern auf die wirklichen Probleme zu schauen, denn die würden alle betreffen.

Die Katholische Sozialakademie Österreich (KSÖ) wolle einen Beitrag zu mehr „guter Politik“ leisten, so KSÖ-Direktorin Magdalena Holztrattner. Dabei müsse man dazu bereit sein, auch eigene Positionen zu hinterfragen und auch zu ändern, ohne sich wie ein Fähnchen im Wind zu drehen. Denn um das gemeinsame Ziel eines „Guten Lebens für alle“ müsse gerungen werden.

Quelle: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1684256/initiative-christlich-geht-anders-gegen-gruppenstigmatisierung

 

VIDEO: Verliert Europa seine Seele?

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Europaabgeordneter Othmar Karas, Pastoraltheologin Regina Polak und Diakoniedirektorin Maria Katharina Moser diskutierten am 4.10.2018 im Wiener Stephanisaal über den Druck auf die Friedensunion, die Menschenrechte und den Sozialstaat und die Rolle der Kirchen.
Moderation: Gabriele Neuwirth.
Einleitung: ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner.
Video: Friedel Hans.

Hier können Sie das Video abrufen:

Verliert Europa seine Seele?

 

Maria Katharina Moser: In Europa an unserer Humanisierung arbeiten

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Diakonie und Kirchen seien „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“, sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Foto: epd/Michael Windisch
Diakonie und Kirchen seien „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“, sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Foto: epd/Michael Windisch

Podiumsdiskussion mit Theologin Polak und EU-Parlamentarier Karas

Wien (epdÖ) – „Die Seele Europas sind die Menschen. Wir haben im vergangenen Jahrhundert eine unglaubliche Bestialisierung der Menschen in Europa erlebt und im Anschluss daran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtscharta entwickelt. Aber diese Humanisierung ist nichts, was uns in Europa automatisch eignet, wir müssen immer an ihr arbeiten.“ Das sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser am Donnerstag, 4. Oktober, anlässlich einer Podiumsdiskussion über die „Seele Europas“ in Wien. Mit Moser diskutierten auf Einladung der ökumenischen Plattform „Christlich geht anders“ die römisch-katholische Theologin Regina Polak und Othmar Karas, ÖVP-Abgeordneter zum Europäischen Parlament.

In der Diskussion sprach sich Moser für eine Aufwertung der sozialen Dimension in Europa aus, die nicht nur den unmittelbar Betroffenen zugutekäme, sondern sich auch als ökonomisch rentabel erweise: „In vielen Bereichen ist in der Krisenzeit in Europa die Beschäftigung gesunken, im Bereich sozialer Dienstleistungen aber um 16 Prozent gestiegen. Die sozialen Leistungen, die wir als Diakonie oder Caritas erbringen sind also auch ein Konjunkturmotor in Europa.“ Die Diakonie-Direktorin kritisierte zudem „Glaubenssätze unserer Zeit: ‚Im Leben wird dir nichts geschenkt‘, ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘. Das widerspricht der christlichen Logik.“ Zuerst, so Moser, müsse die Wertschätzung und Anerkennung kommen; das setze wiederum Energien frei, dank derer wir Leistung erbringen könnten. Das zu betonen sei der Beitrag der Religionen im politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs. Diakonie und Kirchen sprächen als „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“.

Theologin Polak: Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen

Die Wiener Theologin Regina Polak betonte wie Moser die Notwendigkeit eines Begriffs der Werthaftigkeit des Menschen, der vor dessen ökonomischer Leistungsbemessung anzusiedeln sei: „Aus Wertestudien wissen wir, dass ein Mensch meist nur dann als wertvoll anerkannt wird, wenn er einen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Diese Einstellung ist vor allem bei gebildeten Menschen und der Mittelschicht verbreitet. Aber allein mit moralischen Appellen, die Würde des Menschen anzuerkennen, kommen wir hier nicht weiter. Wir müssen auf allen Ebenen schauen, was macht es so schwierig, die Würde des Menschen anzuerkennen?“  Europa, so Polak, sei in erster Linie eine „Erinnerungsgemeinschaft“, die sie jedoch durch eine gegenwärtige „Amnesie“ bedroht sehe. Die mit Stolz hervorgehobenen europäischen Werte seien „auf den Trümmern zweier Weltkriege und Millionen Toter“ entstanden – eine Erfahrung, aus der die Gründerväter gelernt hätten, aus der weiter zu lernen aber noch bevorstehe, sagte die Wissenschaftlerin, die unter anderem zum Verhältnis von Flucht, Migration und Religion forscht. Eine Quelle der gegenwärtigen Probleme liege im demographischen Wandel, der zu einer Überalterung des Kontinents führe: „Die Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen.“ Religionen, insbesondere die monotheistischen, könnten helfen, den europäischen Zukunftspessimismus zu überwinden: „Was zumindest die christliche und jüdische Tradition auf jeden Fall einbringen können ist, zu sagen: Da wartet jemand auf uns, uns ist Zukunft verheißen.“

EU-Abgeordneter Karas: Idee Europas wurzelt im Begriff der Menschenwürde

Der EU-Parlamentarier Othmar Karas sprach sich für eine Verstärkung des interreligiösen und intrareligiösen Dialogs in Europa aus. Als Politiker würde er es sich wünschen, von den anerkannten Religionsgemeinschaften innerhalb der Europäischen Union öfter gemeinsame Anliegen zu hören zu bekommen. „Wir müssen Staat und Kirche trennen“, so Karas, „aber der Glaube  spielt in der Einstellung der Menschen zu anderen eine große Rolle. Das ist auch Teil der politischen Verantwortung, daher erhoffe ich mir eine Intensivierung des Gedankenaustausches zwischen Politik und Religionen, und das nicht nur an Feiertagen.“ Karas zitierte zur Frage nach der Seele Europas Papst Franziskus, der in einer Rede vor dem Europäischen Parlament gemeint habe, die Seele Europas gehe verloren, wo die Idee Europas verlorengehe. Dieser Idee nach, sagte Karas, sei Europa eine Wertgemeinschaft, in der der die täglichen politischen Handlungen wurzeln müssten. Hier gebe es aktuell viele Rückschritte und Defizite, so zum Beispiel das Fehlen eines ausgeprägten Sanktionsmechanismus zur Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, oder eine ausstehende gemeinsame Definition von Armut. Dennoch wolle er sich von den Umständen nicht frustrieren lassen: „Wenn wir uns die Seele rauben lassen, die Suche nach der Würde im anderen, dann hat auch die Idee Europa keine Chance. Diese Idee wurzelt im christlich-jüdischen Glauben und im Begriff der Menschenwürde.“

Die Initiative „Christlich geht anders“ versteht sich laut Eigendefinition als Zusammenschluss von VertreterInnen katholischer, evangelischer und orthodoxer Organisationen mit dem Ziel, „zur gesellschaftlichen Lage Stellung zu beziehen“. Schwerpunktthemen seien dabei „Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Armut und die Not geflüchteter Menschen“. Die Logik des Marktkapitalismus widerspräche den Grundbotschaften des Christentums. Die Initiative orientiert sich dabei am Sozialwort des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRKÖ) aus dem Jahr 2003 und das päpstliche Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (2013). Prominente UnterstützerInnen der Initiative sind Judith Pühringer, Arbeitsmarktexpertin der Armutskonferenz, Paul M. Zulehner, Theologieprofessor und Obmann des Pastoralen Forums, Erhard Busek, früherer Vizekanzler und nunmehr Vorstandsvorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (Wien), und die Evangelische Frauenarbeit.

Quelle: https://evang.at/diakonie-direktorin-moser-muessen-in-europa-an-unserer-humanisierung-arbeiten/

 

Podcast: Phänomen Rechtspopulismus

Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschafter und Jesuit Michael Hainz SJ über das Phänomens Rechtspopulismus aus Sicht der Soziallehre der Kirche und der Bibel.

Otto Friedrich: Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an.

Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an. Keine Empfehlung, dieses Buch auch zu lesen.
„Diese wirklich dummen Muslime“

Von Otto Friedrich

Man muss zugeben, dass einem nach der quälenden Lektüre der knapp 500 Seiten von Thilo Sarrazins neuem Bestseller „Feindliche Über­nahme“ angst und bang werden kann: Nicht zuletzt die in extenso ausgebreiteten Kriminalstatistiken, nach denen jedenfalls in Deutsch­land die „muslimische“ Kriminalität enorm zugenommen habe, was auch mit Einzelbeispielen drohend untermalt wird, lassen den Leser arg be­klommen zurück.

Der Rezensent muss aber auch konzedieren, dass er weder über die Bewertung von Kriminalstatistiken noch der diesbezüglichen deutschen Lage ausreichende Expertise verfügt. Aber es gibt solche längst nachzulesen – etwa jene des Bochumer Kriminolo­gen Thomas Feltes in der Frankfurter Allgemeinen vom 31. August, der kein gutes Haar an Methodik und Schlussfolgerungen des bekanntesten deutschen Kulturpolemikers lässt.

Erkenntisverhindernder Zugang

Dem vernichtenden Urteil des Kriminalexperten kann der Rezensent ähnliche eigene Bewertungen anderer Teile des Buches beigesellen: Sarrazin sucht auch in seinem neu­en Opus sein eigenes und das eines Gutteils seiner Leser bestehende Unbehagen zu be­stätigen – und zwar gegenüber dem Islam, der, wie der Untertitel des Buches sugge­riert, „den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“.

Nun soll keinesfalls bestritten werden, dass es rund um den Islam und die Muslime vieles anzufragen und zu kritisieren gibt, aber eine derartige Generalabrechnung, die dieser Religion durchgängig das Attribut „rückständig“ verleiht und den Muslimen kei­ne Möglichkeit zur  Weiterentwicklung zugesteht, hat man doch noch selten so gelesen – wenn auch pointiert und mit erwartbarer Verve vorgebracht.

Dabei ist Sarrazins Zugang schon im Grundsatz erkenntnisverhindernd. Der streitbare Publizist hat sich hingesetzt, den Koran von A bis Z (auf Deutsch!) gelesen – und ohne viel Federlesens seine Schlüsse gezogen. Dass er dabei entdeckt, dass diese Schrift un­systematisch aufgebaut ist und viele Wiederholungen aufweist, hätte er von jedem Stu­denten der Religionswissenschaft im ersten Semester erfahren können. Abgesehen von allerlei Fehlern (er spricht z.B. von 113 Suren des Koran, obwohl es tatsächlich 114 sind) kann auch keine Rede davon sein, dass er, wie er behauptet, den Koran „einer un­voreingenommenen und gesamthaften Lektüre“ unterzogen hat. Was auch die aktuelle westliche Islamwissenschaft in jahrzehntelanger Analyse nicht zusammengebracht hat (die islamische Gelehrsamkeit gilt Sarrazin sowieso als 14 Jahrhunderte lange Perpetu­ierung der Rückständigkeit), erschließt sich diesem Autor im Schnellverfahren: Es „kann kein Zweifel bestehen“, schreibt er, „dass es sich um einen in weiten Teilen ag­gressiven Text handelt, der die Liebe Gottes auf die Gläubigen beschränkt, deren Ab­grenzung zu den Ungläubigen betont und ein reaktionäres Gesellschaftsbild vermittelt“.

Sarrazin lässt in allen Facetten kein gutes Haar an dieser Religion: Das Bilderverbot habe im islamischen Bereich zu einer Verödung der Künste geführt, es gab „nie“ eine „selbständige islamische Baukultur“, es gab keine relevante wissenschaftliche Innovati­on aus dem islamischen Bereich, die über die „passive Verwaltung der erober­ten Wissensbestände“ hinausging. Dafür perpetuiere der Islam eine gewalttätige Unter­werfungsideologie, unterdrücke per se die Frau – all das führe zu einem Überlegen­heitsgefühl gegenüber allen anderen Religionen und Weltanschauungen und gleichzei­tig zu einem globalen kognitiven Defizit.

Ähnlich wie mit der Kriminalstatistik, aber diesmal gleich weltweit sucht Sarrazin nachzuweisen, dass Muslime, salopp gesagt, dümmer als Christen, Ostasiaten oder Eu­ropäer sind; dieser kognitive Defizienzgürtel zieht sich durch Geschichte und Geo­grafie – und bedrohe nun Europa. Auch in Deutschland seien diese Defizite der Grund für die Rückständigkeit der Muslime und für soziale Verwerfungen, die sich daraus er­geben.

Kognitive Defizienz der Muslime?

Die Unterdrückung der Frau – auch sie ist laut Sarrazin zentral für die Rückständig­keit des Islam – führe dazu, dass ihre Aufgabe auf Familie und Kinderkriegen fokus­siert sei, weswegen islamische Gesellschaften global Bevölkerungsexplosionen hervor­rufen würden. Sarrazin führt dazu aus, dass wissenschaftlicher Fortschritt, zu dem die Muslime eben nichts beigetragen hätten, etwa zur Senkung der Kindersterblichkeit ge­führt habe – aber als Folge davon würden nun die muslimischen Massen Europa und die Welt bedrohen.

All dem liegt für den Autor ein gewalttätig-kriegerischer Impetus zugrunde, der dem Koran immanent sei. Und er kritisiert die wörtliche Auslegung der koranischen Schrif­ten, die bis heute den Mainstream bilde. Pauschal bestreitet Sarrazin, dass der Islam wesentliche kulturelle Leistungen hervorgebracht habe, und wo es scheinbar welche gebe – etwa in der mittelalterlichen Mathematik –, habe er sie von anderen Kulturen übernommen, aber auch nur dann, wenn es für die Errichtung seines Herrschaftssys­tems dienlich war.

Analog bestreitet Sarrazin auch, dass die griechische Philosophie via muslimische Gelehrte ins christliche Mittelalter gerettet wurde. Es mag ja sinnvoll sein, derartige Narrative auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen, aber dann müssten die Behauptungen auch einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielten. Gerade daran hapert es – das erwähnte Beispiel belegt Sarrazin, wenn man sich die Mühe macht, auch die Fußnoten zu lesen, lediglich mit einem kurzen Beitrag, der im islamkritischen Blog „Achse des Guten“ erschienen ist. Daneben zitiert er noch einen Wolfgang Kania, dessen diesbezüg­liche Kompetenz etwa als Historiker auch nicht nachvollziehbar ist, weist ihn die entsprechende Fußnote nur als Leserbriefschreiber an die FAZ aus. Auch dass sich Sarrazin bei der Darstellung von Entwicklungen in der Frühzeit des Islam an die Propy­läen Weltgeschichte aus 1963 und die Fischer Weltgeschichte aus 1968 hält, zeigt, dass er sich nicht um den aktuellen Stand der Geschichtsforschung zum Thema kümmert.

Sarrazin fasst seine Sicht auf den Islam in den drei Punkten „expansive Eroberungs­kraft“, „technisch-zivilisatorischer Rückstand der islamischen Welt“ und „demografi­sche Expansion“, die eben für Deutschland und Europa eine Gefahr darstellten, zusam­men.

Und er leugnet zwar die auch in Deutschland präsenten Versuche nicht, die Koranex­egese von einer wörtlichen Interpretation zu einem den geschichtlichen Kontext in den Blick nehmenden Zugang zu verändern. Er tut diese aber als völlig irrelevant ab und desavouiert damit etwa die Arbeiten des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide, dem er vorhält, sich weit von den Aussagen des Korans zu entfernen – ein Vorwurf, den sich Khorchide auch von seinen salafistischen Kritikern ständig anhören muss.

Oberflächlich und vorgefasst

Sarrazins Kritik am heutigen Mainstream-Islam enthält zwar viel Wahres. Problema­tisch sind seine Auslassungen aber, weil er in Bezug auf den Islam einem völlig kultur­pessimistischen Ansatz frönt, der den Muslimen so gut wie keine Entwicklungsmög­lichkeit zugesteht, wenn sie sich nicht fundamental von ihrer Religion abwenden. Das ist, neben der oberflächlichen Darstellung und Analyse, die vor allem  seine Vorge­fasstheit stützt, der Hauptvorwurf, der dem Buch zu machen ist.

Es gibt ersprießlichere und seriösere kritische Bücher zum Islam, etwa Michael Blu­mes „Islam in der Krise“ (2017), die nicht alles besser wissen und den Westen aus­schließlich im Gestus kultureller, kognitiver und zivilisatorischer Überlegenheit begrei­fen. Aus Blumes lesenswertem Buch pflückt sich Sarrazin gerade ein Schlagwort her­aus, ohne sonst darauf einzugehen.

Anstatt Sarrazins Pamphlet sollte man eine andere Neuerscheinung zur Hand nehmen. Der von deutschen Medien als „Popstar der Salafisten“ gebrandmarkte Imam Abdul Adhim Kamouss erzählt in „Wem gehört der Islam?“ berührend und nachvollziehbar seinen Wandel vom unreflektierten Prediger, der feststellen musste, wie einige seiner Schüler islamistisch radikalisiert wurden, zum Reformer, der einem undogmatischen demokratie‑kompatiblen Islam das Wort redet. Sarrazin, bei dem Kamouss nicht vor­kommt, würde wohl auch ihn unter die liberalen Träumer einreihen. Und die Salafisten sehen in Kamouss sowieso den Abtrünnigen. Aber man sollte Leuten wie ihm mehr Aufmerksamkeit schenken als den dystopischen Niedergangsszenarien, denen sich Sar­razin in seinem Buch erneut hingibt.

Feindliche Übernahme
Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht.
Von Thilo Sarrazin. FinanzBuch Verlag 2018. 496 Seiten, geb., e 25,70

Wem gehört der Islam?
Plädoyer eines Imams gegen
das Schwarz-Weiß-Denken.
Von Abdul Adhim Kamouss. dtv 2018.
224 Seiten, kt., e 17,40

Quelle: DIE FURCHE • 37 | 13. September 2018
Veröffentlichung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Autors!