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VIDEO: Verliert Europa seine Seele?

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Europaabgeordneter Othmar Karas, Pastoraltheologin Regina Polak und Diakoniedirektorin Maria Katharina Moser diskutierten am 4.10.2018 im Wiener Stephanisaal über den Druck auf die Friedensunion, die Menschenrechte und den Sozialstaat und die Rolle der Kirchen.
Moderation: Gabriele Neuwirth.
Einleitung: ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner.
Video: Friedel Hans.

Hier können Sie das Video abrufen:

Verliert Europa seine Seele?

 

Maria Katharina Moser: In Europa an unserer Humanisierung arbeiten

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Diakonie und Kirchen seien „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“, sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Foto: epd/Michael Windisch
Diakonie und Kirchen seien „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“, sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Foto: epd/Michael Windisch

Podiumsdiskussion mit Theologin Polak und EU-Parlamentarier Karas

Wien (epdÖ) – „Die Seele Europas sind die Menschen. Wir haben im vergangenen Jahrhundert eine unglaubliche Bestialisierung der Menschen in Europa erlebt und im Anschluss daran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtscharta entwickelt. Aber diese Humanisierung ist nichts, was uns in Europa automatisch eignet, wir müssen immer an ihr arbeiten.“ Das sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser am Donnerstag, 4. Oktober, anlässlich einer Podiumsdiskussion über die „Seele Europas“ in Wien. Mit Moser diskutierten auf Einladung der ökumenischen Plattform „Christlich geht anders“ die römisch-katholische Theologin Regina Polak und Othmar Karas, ÖVP-Abgeordneter zum Europäischen Parlament.

In der Diskussion sprach sich Moser für eine Aufwertung der sozialen Dimension in Europa aus, die nicht nur den unmittelbar Betroffenen zugutekäme, sondern sich auch als ökonomisch rentabel erweise: „In vielen Bereichen ist in der Krisenzeit in Europa die Beschäftigung gesunken, im Bereich sozialer Dienstleistungen aber um 16 Prozent gestiegen. Die sozialen Leistungen, die wir als Diakonie oder Caritas erbringen sind also auch ein Konjunkturmotor in Europa.“ Die Diakonie-Direktorin kritisierte zudem „Glaubenssätze unserer Zeit: ‚Im Leben wird dir nichts geschenkt‘, ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘. Das widerspricht der christlichen Logik.“ Zuerst, so Moser, müsse die Wertschätzung und Anerkennung kommen; das setze wiederum Energien frei, dank derer wir Leistung erbringen könnten. Das zu betonen sei der Beitrag der Religionen im politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs. Diakonie und Kirchen sprächen als „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“.

Theologin Polak: Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen

Die Wiener Theologin Regina Polak betonte wie Moser die Notwendigkeit eines Begriffs der Werthaftigkeit des Menschen, der vor dessen ökonomischer Leistungsbemessung anzusiedeln sei: „Aus Wertestudien wissen wir, dass ein Mensch meist nur dann als wertvoll anerkannt wird, wenn er einen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Diese Einstellung ist vor allem bei gebildeten Menschen und der Mittelschicht verbreitet. Aber allein mit moralischen Appellen, die Würde des Menschen anzuerkennen, kommen wir hier nicht weiter. Wir müssen auf allen Ebenen schauen, was macht es so schwierig, die Würde des Menschen anzuerkennen?“  Europa, so Polak, sei in erster Linie eine „Erinnerungsgemeinschaft“, die sie jedoch durch eine gegenwärtige „Amnesie“ bedroht sehe. Die mit Stolz hervorgehobenen europäischen Werte seien „auf den Trümmern zweier Weltkriege und Millionen Toter“ entstanden – eine Erfahrung, aus der die Gründerväter gelernt hätten, aus der weiter zu lernen aber noch bevorstehe, sagte die Wissenschaftlerin, die unter anderem zum Verhältnis von Flucht, Migration und Religion forscht. Eine Quelle der gegenwärtigen Probleme liege im demographischen Wandel, der zu einer Überalterung des Kontinents führe: „Die Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen.“ Religionen, insbesondere die monotheistischen, könnten helfen, den europäischen Zukunftspessimismus zu überwinden: „Was zumindest die christliche und jüdische Tradition auf jeden Fall einbringen können ist, zu sagen: Da wartet jemand auf uns, uns ist Zukunft verheißen.“

EU-Abgeordneter Karas: Idee Europas wurzelt im Begriff der Menschenwürde

Der EU-Parlamentarier Othmar Karas sprach sich für eine Verstärkung des interreligiösen und intrareligiösen Dialogs in Europa aus. Als Politiker würde er es sich wünschen, von den anerkannten Religionsgemeinschaften innerhalb der Europäischen Union öfter gemeinsame Anliegen zu hören zu bekommen. „Wir müssen Staat und Kirche trennen“, so Karas, „aber der Glaube  spielt in der Einstellung der Menschen zu anderen eine große Rolle. Das ist auch Teil der politischen Verantwortung, daher erhoffe ich mir eine Intensivierung des Gedankenaustausches zwischen Politik und Religionen, und das nicht nur an Feiertagen.“ Karas zitierte zur Frage nach der Seele Europas Papst Franziskus, der in einer Rede vor dem Europäischen Parlament gemeint habe, die Seele Europas gehe verloren, wo die Idee Europas verlorengehe. Dieser Idee nach, sagte Karas, sei Europa eine Wertgemeinschaft, in der der die täglichen politischen Handlungen wurzeln müssten. Hier gebe es aktuell viele Rückschritte und Defizite, so zum Beispiel das Fehlen eines ausgeprägten Sanktionsmechanismus zur Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, oder eine ausstehende gemeinsame Definition von Armut. Dennoch wolle er sich von den Umständen nicht frustrieren lassen: „Wenn wir uns die Seele rauben lassen, die Suche nach der Würde im anderen, dann hat auch die Idee Europa keine Chance. Diese Idee wurzelt im christlich-jüdischen Glauben und im Begriff der Menschenwürde.“

Die Initiative „Christlich geht anders“ versteht sich laut Eigendefinition als Zusammenschluss von VertreterInnen katholischer, evangelischer und orthodoxer Organisationen mit dem Ziel, „zur gesellschaftlichen Lage Stellung zu beziehen“. Schwerpunktthemen seien dabei „Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Armut und die Not geflüchteter Menschen“. Die Logik des Marktkapitalismus widerspräche den Grundbotschaften des Christentums. Die Initiative orientiert sich dabei am Sozialwort des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRKÖ) aus dem Jahr 2003 und das päpstliche Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (2013). Prominente UnterstützerInnen der Initiative sind Judith Pühringer, Arbeitsmarktexpertin der Armutskonferenz, Paul M. Zulehner, Theologieprofessor und Obmann des Pastoralen Forums, Erhard Busek, früherer Vizekanzler und nunmehr Vorstandsvorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (Wien), und die Evangelische Frauenarbeit.

Quelle: https://evang.at/diakonie-direktorin-moser-muessen-in-europa-an-unserer-humanisierung-arbeiten/

 

Podcast: Phänomen Rechtspopulismus

Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschafter und Jesuit Michael Hainz SJ über das Phänomens Rechtspopulismus aus Sicht der Soziallehre der Kirche und der Bibel.

Otto Friedrich: Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an.

Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an. Keine Empfehlung, dieses Buch auch zu lesen.
„Diese wirklich dummen Muslime“

Von Otto Friedrich

Man muss zugeben, dass einem nach der quälenden Lektüre der knapp 500 Seiten von Thilo Sarrazins neuem Bestseller „Feindliche Über­nahme“ angst und bang werden kann: Nicht zuletzt die in extenso ausgebreiteten Kriminalstatistiken, nach denen jedenfalls in Deutsch­land die „muslimische“ Kriminalität enorm zugenommen habe, was auch mit Einzelbeispielen drohend untermalt wird, lassen den Leser arg be­klommen zurück.

Der Rezensent muss aber auch konzedieren, dass er weder über die Bewertung von Kriminalstatistiken noch der diesbezüglichen deutschen Lage ausreichende Expertise verfügt. Aber es gibt solche längst nachzulesen – etwa jene des Bochumer Kriminolo­gen Thomas Feltes in der Frankfurter Allgemeinen vom 31. August, der kein gutes Haar an Methodik und Schlussfolgerungen des bekanntesten deutschen Kulturpolemikers lässt.

Erkenntisverhindernder Zugang

Dem vernichtenden Urteil des Kriminalexperten kann der Rezensent ähnliche eigene Bewertungen anderer Teile des Buches beigesellen: Sarrazin sucht auch in seinem neu­en Opus sein eigenes und das eines Gutteils seiner Leser bestehende Unbehagen zu be­stätigen – und zwar gegenüber dem Islam, der, wie der Untertitel des Buches sugge­riert, „den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“.

Nun soll keinesfalls bestritten werden, dass es rund um den Islam und die Muslime vieles anzufragen und zu kritisieren gibt, aber eine derartige Generalabrechnung, die dieser Religion durchgängig das Attribut „rückständig“ verleiht und den Muslimen kei­ne Möglichkeit zur  Weiterentwicklung zugesteht, hat man doch noch selten so gelesen – wenn auch pointiert und mit erwartbarer Verve vorgebracht.

Dabei ist Sarrazins Zugang schon im Grundsatz erkenntnisverhindernd. Der streitbare Publizist hat sich hingesetzt, den Koran von A bis Z (auf Deutsch!) gelesen – und ohne viel Federlesens seine Schlüsse gezogen. Dass er dabei entdeckt, dass diese Schrift un­systematisch aufgebaut ist und viele Wiederholungen aufweist, hätte er von jedem Stu­denten der Religionswissenschaft im ersten Semester erfahren können. Abgesehen von allerlei Fehlern (er spricht z.B. von 113 Suren des Koran, obwohl es tatsächlich 114 sind) kann auch keine Rede davon sein, dass er, wie er behauptet, den Koran „einer un­voreingenommenen und gesamthaften Lektüre“ unterzogen hat. Was auch die aktuelle westliche Islamwissenschaft in jahrzehntelanger Analyse nicht zusammengebracht hat (die islamische Gelehrsamkeit gilt Sarrazin sowieso als 14 Jahrhunderte lange Perpetu­ierung der Rückständigkeit), erschließt sich diesem Autor im Schnellverfahren: Es „kann kein Zweifel bestehen“, schreibt er, „dass es sich um einen in weiten Teilen ag­gressiven Text handelt, der die Liebe Gottes auf die Gläubigen beschränkt, deren Ab­grenzung zu den Ungläubigen betont und ein reaktionäres Gesellschaftsbild vermittelt“.

Sarrazin lässt in allen Facetten kein gutes Haar an dieser Religion: Das Bilderverbot habe im islamischen Bereich zu einer Verödung der Künste geführt, es gab „nie“ eine „selbständige islamische Baukultur“, es gab keine relevante wissenschaftliche Innovati­on aus dem islamischen Bereich, die über die „passive Verwaltung der erober­ten Wissensbestände“ hinausging. Dafür perpetuiere der Islam eine gewalttätige Unter­werfungsideologie, unterdrücke per se die Frau – all das führe zu einem Überlegen­heitsgefühl gegenüber allen anderen Religionen und Weltanschauungen und gleichzei­tig zu einem globalen kognitiven Defizit.

Ähnlich wie mit der Kriminalstatistik, aber diesmal gleich weltweit sucht Sarrazin nachzuweisen, dass Muslime, salopp gesagt, dümmer als Christen, Ostasiaten oder Eu­ropäer sind; dieser kognitive Defizienzgürtel zieht sich durch Geschichte und Geo­grafie – und bedrohe nun Europa. Auch in Deutschland seien diese Defizite der Grund für die Rückständigkeit der Muslime und für soziale Verwerfungen, die sich daraus er­geben.

Kognitive Defizienz der Muslime?

Die Unterdrückung der Frau – auch sie ist laut Sarrazin zentral für die Rückständig­keit des Islam – führe dazu, dass ihre Aufgabe auf Familie und Kinderkriegen fokus­siert sei, weswegen islamische Gesellschaften global Bevölkerungsexplosionen hervor­rufen würden. Sarrazin führt dazu aus, dass wissenschaftlicher Fortschritt, zu dem die Muslime eben nichts beigetragen hätten, etwa zur Senkung der Kindersterblichkeit ge­führt habe – aber als Folge davon würden nun die muslimischen Massen Europa und die Welt bedrohen.

All dem liegt für den Autor ein gewalttätig-kriegerischer Impetus zugrunde, der dem Koran immanent sei. Und er kritisiert die wörtliche Auslegung der koranischen Schrif­ten, die bis heute den Mainstream bilde. Pauschal bestreitet Sarrazin, dass der Islam wesentliche kulturelle Leistungen hervorgebracht habe, und wo es scheinbar welche gebe – etwa in der mittelalterlichen Mathematik –, habe er sie von anderen Kulturen übernommen, aber auch nur dann, wenn es für die Errichtung seines Herrschaftssys­tems dienlich war.

Analog bestreitet Sarrazin auch, dass die griechische Philosophie via muslimische Gelehrte ins christliche Mittelalter gerettet wurde. Es mag ja sinnvoll sein, derartige Narrative auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen, aber dann müssten die Behauptungen auch einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielten. Gerade daran hapert es – das erwähnte Beispiel belegt Sarrazin, wenn man sich die Mühe macht, auch die Fußnoten zu lesen, lediglich mit einem kurzen Beitrag, der im islamkritischen Blog „Achse des Guten“ erschienen ist. Daneben zitiert er noch einen Wolfgang Kania, dessen diesbezüg­liche Kompetenz etwa als Historiker auch nicht nachvollziehbar ist, weist ihn die entsprechende Fußnote nur als Leserbriefschreiber an die FAZ aus. Auch dass sich Sarrazin bei der Darstellung von Entwicklungen in der Frühzeit des Islam an die Propy­läen Weltgeschichte aus 1963 und die Fischer Weltgeschichte aus 1968 hält, zeigt, dass er sich nicht um den aktuellen Stand der Geschichtsforschung zum Thema kümmert.

Sarrazin fasst seine Sicht auf den Islam in den drei Punkten „expansive Eroberungs­kraft“, „technisch-zivilisatorischer Rückstand der islamischen Welt“ und „demografi­sche Expansion“, die eben für Deutschland und Europa eine Gefahr darstellten, zusam­men.

Und er leugnet zwar die auch in Deutschland präsenten Versuche nicht, die Koranex­egese von einer wörtlichen Interpretation zu einem den geschichtlichen Kontext in den Blick nehmenden Zugang zu verändern. Er tut diese aber als völlig irrelevant ab und desavouiert damit etwa die Arbeiten des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide, dem er vorhält, sich weit von den Aussagen des Korans zu entfernen – ein Vorwurf, den sich Khorchide auch von seinen salafistischen Kritikern ständig anhören muss.

Oberflächlich und vorgefasst

Sarrazins Kritik am heutigen Mainstream-Islam enthält zwar viel Wahres. Problema­tisch sind seine Auslassungen aber, weil er in Bezug auf den Islam einem völlig kultur­pessimistischen Ansatz frönt, der den Muslimen so gut wie keine Entwicklungsmög­lichkeit zugesteht, wenn sie sich nicht fundamental von ihrer Religion abwenden. Das ist, neben der oberflächlichen Darstellung und Analyse, die vor allem  seine Vorge­fasstheit stützt, der Hauptvorwurf, der dem Buch zu machen ist.

Es gibt ersprießlichere und seriösere kritische Bücher zum Islam, etwa Michael Blu­mes „Islam in der Krise“ (2017), die nicht alles besser wissen und den Westen aus­schließlich im Gestus kultureller, kognitiver und zivilisatorischer Überlegenheit begrei­fen. Aus Blumes lesenswertem Buch pflückt sich Sarrazin gerade ein Schlagwort her­aus, ohne sonst darauf einzugehen.

Anstatt Sarrazins Pamphlet sollte man eine andere Neuerscheinung zur Hand nehmen. Der von deutschen Medien als „Popstar der Salafisten“ gebrandmarkte Imam Abdul Adhim Kamouss erzählt in „Wem gehört der Islam?“ berührend und nachvollziehbar seinen Wandel vom unreflektierten Prediger, der feststellen musste, wie einige seiner Schüler islamistisch radikalisiert wurden, zum Reformer, der einem undogmatischen demokratie‑kompatiblen Islam das Wort redet. Sarrazin, bei dem Kamouss nicht vor­kommt, würde wohl auch ihn unter die liberalen Träumer einreihen. Und die Salafisten sehen in Kamouss sowieso den Abtrünnigen. Aber man sollte Leuten wie ihm mehr Aufmerksamkeit schenken als den dystopischen Niedergangsszenarien, denen sich Sar­razin in seinem Buch erneut hingibt.

Feindliche Übernahme
Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht.
Von Thilo Sarrazin. FinanzBuch Verlag 2018. 496 Seiten, geb., e 25,70

Wem gehört der Islam?
Plädoyer eines Imams gegen
das Schwarz-Weiß-Denken.
Von Abdul Adhim Kamouss. dtv 2018.
224 Seiten, kt., e 17,40

Quelle: DIE FURCHE • 37 | 13. September 2018
Veröffentlichung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Autors!

P. Franz Helm SVD, St. Gabriel: Wir brauchen Gesetze, die menschliche Grundrechte und die Natur schützen

Mitte Juni wurde begonnen, das Flüchtlingsheim in der Ordensniederlassung St. Gabriel bei Mödling aufzulösen.
Über 15.000 Menschen haben via Onlinepetition gegen die Schließung protestiert. mosaik hat bei Franz Helm, Ordensmitglied der Steyler Missionare und selber Bewohner von St. Gabriel, nachgefragt.

mosaik: Was ist der aktuelle Stand rund um das Caritas-Flüchtlingsheim in St. Gabriel? 

Franz Helm: Im Juni gab es eine Übergabe der von uns gesammelten Unterschriften an Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, bei der auch ein Mitglied unserer Gemeinschaft anwesend war. Wir Steyler Missionare haben betont, wie wichtig für uns die Solidarität mit geflüchteten Menschen ist. Und dass wir das Flüchtlingsheim als wesentliche Einrichtung am Standort St. Gabriel sehen.

Die Landeshauptfrau hat zugesichert, dass der Vertrag mit der Caritas erfüllt wird und das Flüchtlingsheim bleibt. Eine ebensolche Zusicherung gab es vom Büro von Landesrat Waldhäusl (FPÖ), der im Land Niederösterreich für den Bereich Integration zuständig ist. Das Caritas-Flüchtlingsheim in St. Gabriel ist ja spezialisiert auf die Betreuung von traumatisierten und (psychisch) kranken Personen. Darunter sind sogenannte „Härtefälle“ – Menschen, die besonders auf Betreuung angewiesen sind. Es gab die Zusicherung der Behörde, dass sie bleiben können. Leider ist die Entwicklung so, dass mehr als zwei Drittel der Schutzsuchenden schon in andere Heime verlegt wurden. Das kann ich nicht verstehen.

Unter den Verlegten sind Personen, die aufgrund ihres Krankheitsbildes sich selbst und andere gefährden können, wenn sie nicht regelmäßig ihre Medikamente nehmen. Drei von ihnen sind laut einem Zeitungsbericht zumindest vorübergehend verschwunden. Es ist unverantwortlich, wie hier mit kranken Menschen umgegangen wird und es ist unverantwortlich, wie hier mit der Sicherheit dieser Personen und der Bevölkerung gespielt wird. Und das, obwohl das zentrale Argument von FPÖ-Landesrat Waldhäusl immer die fehlende Sicherheit war.

Insgesamt bekomme ich den Eindruck, dass die Caritas sowie andere kirchliche Akteure und auch NGOs aus dem Flüchtlingsbereich hinausgedrängt werden sollen. Die Betreuung dafür wird vermehrt direkt in staatliche und private Hände gegeben, um lästige Zwischenrufe durch christlich und humanistisch eingestellte Menschen zu verhindern. Das Vorgehen der politisch Verantwortlichen ist von Härte und Rücksichtslosigkeit geprägt, um Flüchtlinge abzuschrecken und solidarische Menschen zu entmutigen.

Vor Ort habt ihr mit einigem Gegenwind zu kämpfen. So macht etwa auch die ÖVP Stimmung gegen die Unterkunft. Wie erklärst du dir das?

Im Flüchtlingsheim hat es im Mai einen Mord gegeben. Es war der erste und einzige derartige Fall in 26 Jahren, bei Tausenden Flüchtlingen, die in St. Gabriel Aufnahme und Betreuung fanden. Auch nach diesem Vorfall fühlten wir 40 Ordensleute, die Tür an Tür mit den Flüchtlingen leben, uns nicht bedroht. Gleiches sagen Eltern von Kindern, die auf unserem Klostergelände unweit des Flüchtlingsheimes eine Schule besuchen. Ebenso wie Leute, die auf unserem Gelände einen Betrieb haben.

Um die Rede von der „Unsicherheitslage“ zu untermauern, wurde von zahlreichen Polizeieinsätzen gesprochen, die stattgefunden hätten. Diese vermehrten Einsätze haben aber schon 2016 stattgefunden, als zwischenzeitlich zusätzliche Hunderte Flüchtlinge bei uns in einer Notunterkunft Aufnahme fanden. Damals waren sehr viele Flüchtlinge in Österreich obdachlos und lebten auf der Straße. Aber auch aus dieser Zeit ist mir kein schwerer Zwischenfall bekannt.

Boulevardmedien wie „Heute“ verbreiten einseitig Meldungen, die Asylwerber und Flüchtlinge insgesamt als ein Sicherheitsrisiko darstellen. Das Schlimme ist, dass das über diese Medien erzeugte Bild die Menschen stärker beeinflusst als die Faktenlage.

Ich erwarte mir von der Politik, dass sie unberechtigte Ängste nicht schürt, sondern ihnen entgegentritt. Aber anscheinend ist das Interesse nicht, Realpolitik zu machen, die den Menschen – und besonders den Schwächsten in der Gesellschaft – dient. Man will aus tragischen Vorfällen Kapital schlagen und auf Kosten von traumatisierten und kranken Menschen Stimmen optimieren. Das finde ich verwerflich.

Du bist als Mitinitiator der Romaria-Wallfahrt schon sehr lange in der Solidaritätsarbeit mit Flüchtlingen aktiv. Wie hat sich deiner Beobachtung nach die Stimmung gegenüber Geflüchteten in den letzten Jahren verändert?

Leider hat sich die Stimmung vor allem seit 2017 stark verschlechtert. Fehlende Unterstützung für so viele Ehrenamtliche und Institutionen, die sich für schutzsuchende Menschen einsetzen und einseitige Berichterstattung der Medien haben meiner Ansicht nach dazu geführt. Ich weiß von so vielen wunderbaren Beispielen von gelungener Integration – sie zählen nicht. Was zählt sind „bad news“, mit denen Geschäft und Politik gemacht werden.

Wir Steyler Missionare sind eine weltweite Ordensgemeinschaft, die in über 80 Ländern vor allem im globalen Süden tätig ist. Dort leisten wir seit vielen Jahrzehnten wirksame Hilfe zur Selbsthilfe. Was Politiker immer wieder versprechen und dann nicht umsetzen, das leben wir: Hilfe vor Ort. Ich würde mir wünschen, dass man endlich von Stimmungsmache hin zu echten Problemlösungen findet. Hilfsaktionen im Mittelmeer zu verbieten und zu kriminalisieren, Lager in Nordafrika zu schaffen und Menschen die Möglichkeit zu nehmen, in der EU Asylanträge zu stellen, ist keine Problemlösung, sondern Zynismus und Unmenschlichkeit. Es macht mich sehr betroffen, dass so eine Politik anscheinend mittlerweile mehrheitsfähig ist.

Der Papst hat anlässlich des Weltflüchtlingstages zu mehr Menschlichkeit und vor allem Solidarität gegenüber denjenigen aufgerufen, „die dazu gezwungen sind, ihre eigenen Länder zu verlassen.“ Die Politik unserer Regierung scheint das nicht sehr zu beeindrucken. Eher im Gegenteil, wenn man sich die vielen Abschiebungen nach Afghanistan ansieht. Wie siehst du das?

Für mich sind die Abschiebungen nach Afghanistan unmenschlich. Weil die abgeschobenen Menschen dort keine Sicherheit haben, ja um ihr Leben fürchten müssen. Abschiebungen von integrationswilligen bzw. bereits integrierten Menschen scheinen derzeit Vorrang zu haben.

Man will anscheinend bewusst den sozialen Konflikt schüren und das Negativbild der „Ausländer“ noch verstärken, um eine „Law and Order“ Politik, eine Aufrüstung der Polizei und eine Abschottung der Grenzen zu rechtfertigen. Ich mache mir große Sorgen um unser Land. Es wird in meinen Augen zunehmend unmenschlich, unsolidarisch und xenophob. Für mich als Christen hat jeder Mensch die gleiche Würde und das gleiche Recht auf ein gutes Leben, denn in jedem Menschen sehe ich ein Ebenbild Gottes.

Auch jenseits seines Engagements für Flüchtlinge, findet Franziskus deutliche Worte, wenn es etwa um seine Kritik an der herrschenden Wirtschaftsordnung geht, die im Sinne einiger Weniger funktioniert. So meint er etwa: „Der Kapitalismus kennt Philanthropie, aber keine Gemeinschaft“.

Wenn der Eigennutz und die Gewinnmaximierung um jeden Preis das Credo des Wirtschaftens sind, dann kommen dabei die Menschen und die Natur unter die Räder. Wir brauchen unbedingt gesetzliche Rahmenbedingungen, die menschliche Grundrechte und die Natur schützen.

Gerade der Klimawandel und die Migrationsströme aus Gegenden, wo Massenarmut ist, führen uns diese Notwendigkeit drastisch vor Augen. Leider scheint derzeit eine globale Wirtschaftspolitik vorzuherrschen, wo diese Notwendigkeit geleugnet wird.

Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung, die in die Katastrophe führt. Davor warnt Papst Franziskus. Es braucht soziale Gerechtigkeit, die ein gutes Leben für jeden, ja für alle Menschen anstrebt. Almosen für die, die im ungeregelten unfairen Wettbewerb auf der Strecke bleiben, sind keine Lösung.

Aktuelle Gesetzesänderungen, wie der 12-Stunden-Tag, dienen ja genau dazu den Menschen noch weiter in den Dienst der Wirtschaft zu stellen, statt umgekehrt. Wie kommen wir da wieder raus? Welche Rolle könnte Kirche dabei spielen?

Die Kirchen, inkl. die Bischofskonferenz der Katholischen Kirche, haben sich Gott sei Dank sehr klar zu Wort gemeldet und eindeutig gegen diese Gesetzesänderungen Stellung bezogen. Besonders aktiv ist die Katholische Aktion, z.B. die Katholische Frauenbewegung.

Es braucht den breiten Protest, den Schulterschluss aller demokratischen und sozialen Kräfte im Land. Und es braucht Bewusstseinsbildung – wie sie z.B. durch die Initiative „Christlich geht anders“ geschieht. Und es braucht das Gebet – damit harte Herzen wieder empfindsam werden für das Leid anderer.

Interview: Rainer Hackauf und Sandra Stern.

Quelle: https://mosaik-blog.at/fluechtlingsheim-st-gabriel-schwarz-blau-franz-helm-interview/

 

Ordensgemeinschaften: Mit großer Sorge

Foto: mschauer

Stellungnahme der Ordensgemeinschaften in Österreich für eine menschenwürdige Asylpolitik

[Wien, 13. Sept 2018] In einer offenen Stellungnahme der Ordensgemeinschaften an die Regierung plädieren die Präsidentin der Vereinigung von Ordensfrauen Sr. Beatrix Mayrhofer und der Vorsitzende der Männerorden Abt em. Christian Haidinger für eine Politik, die der christlichen Verantwortung den Schwächsten gegenüber gerecht wird.

„Mit großer Sorge erleben wir in den letzten Tagen eine rigide Verschärfung im Umgang mit jenen jungen Menschen, die bei uns um Asyl ansuchen.  Wir sehen, dass der Integrationswille, die konkrete Ausbildung  junger Menschen, ja nicht einmal mehr die Bedürfnisse unserer Gewerbebetriebe in den Blick genommen werden. Abschiebung erscheint wichtiger als Ausbildung. Gesetzeskonform wird gegen die Bedürfnisse  der Menschen, der Gesellschaft, der Wirtschaft entschieden. Gerade weil geltendes Gesetz zur Anwendung gebracht wird, zeigt sich, dass dieses Recht zu schreiendem Unrecht wird, wenn es den Blick auf den Menschen verliert.

Aus unserer christlichen Haltung als Ordensfrauen und Ordensmänner mahnen wir einen gastfreundlichen Blick auf Menschen ein. Wir plädieren mit aller Deutlichkeit: Halten wir unsere Gesellschaft offen für jene Menschen, die vor Krieg, Not und Verfolgung ihr Leben retten und sich erfreulicher Weise hier integrieren wollen. Es darf nicht sein, dass auf Kosten der Schwächsten Politik gemacht, Angst geschürt, einer Verrohung der Sprache Vorschub geleistet wird und so positive Beispiele der Integration in allen Bereichen der Gesellschaft ignoriert werden. Die Anwendung des Gesetzes dem Buchstaben nach untergräbt das Bemühen so vieler Menschen, die unsere Gesellschaft im Geist des Humanismus und aus christlicher Überzeugung tragen. Für uns Ordenschristinnen gilt als eine Grundaussage: „Fremdes bereichert“.  Aus christlich-sozialer Verantwortung plädieren wir für eine Änderung der migrationsfeindlichen Haltung, der Verrohung der Sprache und der herzlosen Auslegung des Gesetzes. Für die Lehrlinge setzen sich derzeit viele Verantwortliche in der Wirtschaft ein, wir erheben unserer Stimme für alle jungen Menschen, die ihre Ausbildung begonnen haben,  weil wir überzeugt sind, dass die Menschenwürde unteilbar ist. Wir erinnern in diesen Tagen an die unmissverständlichen Worte Jesu: Was ihr den Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Gott setzt bei den Geringsten an und will, dass sie ein gutes Leben führen können. Wir plädieren für eine Politik, die allen Menschen gerecht wird.“

Kirchenasyl in der Erzdiözese Salzburg

Salzburg, 04.07.2018 (KAP) Die Erzdiözese Salzburg hat einem von der Abschiebung bedrohten 23-jährigen Asylwerber aus Pakistan Kirchenasyl gewährt. Ali Wajid kam vor drei Jahren nach Österreich und arbeitet seit Oktober 2017 im Lokal der ARGEkultur als Kellner-Lehrling. Im Mai erhielt er einen negativen Asylbescheid in zweiter Instanz, am 1. Juli einen neuen Bescheid mit der Aufforderung, sich innerhalb von 72 Stunden in der Flüchtlingsunterkunft Schwechat einzufinden – bei Flüchtlingshelfern bekannt als letzte Station vor der Abschiebung. Ob die Behörden und die Polizei die Maßnahme tolerieren ist ungewiss, da es in Österreich keine rechtliche Grundlage für Kirchenasyl gibt.

Die Kirche reagiere auf vorhandene Not, wenn Menschen in Bedrängnis sind, erklärte Erzbischof Franz Lackner seine Entscheidung. „Die Kirche nimmt sich den Heimatlosen und Armen an. Aus der Botschaft Jesu heraus sind wir zutiefst dazu verpflichtete, zu helfen“, stellte auch Dechant Alois Dürlinger, Sprecher des Erzbischofs in Asyl- und Flüchtlingsfragen, am Mittwoch bei einer Pressekonferenz klar. Mit dem Kirchenasyl soll für den jungen Pakistani nun Zeit gewonnen werden, um die rechtliche Situation zu klären.

Anfang Juni wurde Wajid von einer Polizeistreife festgenommen. Er sollte in Schubhaft auf seine Abschiebung nach Pakistan warten. Nach einigen Stunden in Polizeigewahrsam gelang es, eine „Freilassung gegen gelinde Mittel“ zu erzielen: Der Lehrling musste sich seitdem alle 48 Stunden bei der Polizei melden, um nachzuweisen, dass er nicht untergetaucht ist. Zugleich legte sein Anwalt außerordentliche Revision gegen den Bescheid ein und stellte einen Antrag auf aufschiebende Wirkung. Denn in Salzburg strebt die Landesregierung derzeit eine Lösung für junge Flüchtlinge in Ausbildung an. Landeshauptmann Wilfried Haslauer hatte zuletzt etwa angeregt, die Rot-Weiß-Rot-Karte auf Asylwerber asuzudehnen, die sich in einer Ausbildung befinden.

Doch am vergangenen Sonntag wurde Wajid erneut ein Bescheid des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl (BFA) zugestellt – ohne Rücksicht auf den laufenden Einspruch. Er habe sich binnen 72 Stunden in einer Flüchtlingsunterkunft in Schwechat einzufinden. Kurz vor Ablauf der 72-Stunden-Frist am Mittwochvormittag könnte nun mit dem Kirchenasyl eine Lösung für ihn gefunden worden sein.

Ali Wajid wurde in der Erzabtei St. Peter aufgenommen. „Zum ersten Mal seit langem konnte sich Ali im Kloster wieder etwas entspannen“, erzählte ARGEkultur-Vorstandsvorsitzender Bernhard Jenny. Der Menschenrechtsaktivist hatte bei dem Pressegespräch kritisiert, dass gerade die besonders vorbildliche Integration des jungen Flüchtlings der Hauptgrund dafür gewesen sei, dass er so schnell ins Fadenkreuz der Regierung gekommen sei.

Ungenügender Schutz

Wenn wir Kirchenasyl in Erwägung ziehen, antwortet die Kirche auf eine vorhandene Not“, zitierte Dürlinger Erzbischof Lackner. Dieser Schritt sei keinesfalls als Protestmanöver zu verstehen. „Wenn der Schutz als ungenügend erachtet wird, trachtet die Kirche danach, das Gesetz zu überbieten.“ Kirchenasyl habe zwar keine rechtliche Grundlage, Dürlinger appellierte aber an Gesetzgeber und Exekutive, die Maßnahme zu respektieren. „Das nimmt Ali Wajid momentan den schlimmsten Stress.“

Kirchenasyl wurde in Österreich mit dem modernen Rechtsstaat im 18./19. Jahrhundert abgeschafft und kam auch in jüngster Vergangenheit nur selten zur Anwendung. Im Mai 2011 bekannte sich die evangelische Diözese Salzburg/Tirol zu der Tradition.

Anders in Deutschland, wo sich im Februar 2015 die ökumenische „Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge darauf einigten, die Tradition nicht in Frage zu stellen. In Deutschland wird Kirchenasyl als zeitlich befristete Aufnahme in den Räumen einer Kirchengemeinde für Menschen, denen bei Abschiebung Folter, Tod oder inhumane Härte droht, gewährt. Das Oberlandesgericht (OLG) in München hat jüngst entschieden, dass Kirchenasyl abgelehnte Flüchtlinge in Deutschland nicht vor einer Abschiebung schützt. Dennoch befinden sich nach Schätzungen deutschlandweit rund 700 Menschen in Kirchenasyl.

Quelle: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1652573/erzdioezese-salzburg-gewaehrt-asylwerber-kirchenasyl

Stephanie Schebesch-Ruf: Christlich geht anders, weil …

… Kinderarmut einschränkt, ausgrenzt und uns alle angeht.

Jedes fünfte Kind bzw. jeder fünfte Jugendliche in Österreich ist armuts- bzw. ausgrenzungsgefährdet.

Was wir im Moment erleben, ist ein Land, das umgebaut wird auf Kosten von Frauen, MigrantInnen und derer, die keine dicke Brieftasche haben. Das deckt sich weder mit der christlichen Haltung der Katholischen Jungschar, sich für die Anliegen der Menschen am Rand der Gesellschaft einzusetzen, noch mit unserer gesellschaftspolitischen Arbeit zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention.

Das soziale Klima in Österreich wird rauer und trifft die Ärmsten unserer Gesellschaft. Kinder sind in diesem Kontext unmittelbar mit ihren Eltern mitbetroffen. Diese Unterversorgung hat langfristige Folgen, denn Kinderarmut beeinträchtigt die weiteren Lebenschancen von Kindern. Besonders gefährdet sind Heranwachsende in Ein-Eltern-Haushalten, Mehr-Kind-Familien, Familien mit Migrationshintergrund und geringen Bildungsabschlüssen; ebenso in Familien ohne bzw. mit geringem Erwerbseinkommen (working poor) sowie in Familien mit besonderen Belastungen wie etwa Krankheit oder Pflege eines Familienmitglieds.

Sachorientierte Politik braucht empirische Grundlagen. Bei den Kosten, die Familien für ihre Kinder aufwenden müssen, fehlen diese. Zwar gibt es die Regelbedarfssätze, die für Kinder je nach Altersstufe einen bestimmten Bedarf festlegen. Diese Werte gehen aber auf eine Erhebung im Jahr 1964 zurück, wo der Warenkorb noch ein völlig anderer war.

Die Katholische Jungschar fordert eine den aktuellen Kinderkosten angepasste Kindergrundsicherung für alle Kinder in Österreich. Diese würde Kinderarmut massiv reduzieren und damit auch die Chancen auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe von Kindern erhöhen.

Armut bedeutet im Leben von Kindern viele Einschränkungen, nicht nur im materiellen Sinne. Sie wirkt sich auf Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Wohnen und soziale Teilhabe aus.

Umso wichtiger ist es, dass die Politik bei der Lebenssituation der Betroffenen ansetzt und die Rahmenbedingungen wie Kinderbetreuung, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit verbessert, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe oder Religion.

Stephanie Schebesch-Ruf
Bundesvorsitzende der Katholischen Jungschar Österreich

Judith Pühringer: Christlich geht anders, weil …

… wir Arbeit neu diskutieren, neu bewerten und neu verteilen müssen.

Die Arbeitswelt ist im Umbruch. Das Versprechen, dass es Arbeit für alle gibt, die arbeiten wollen, hält längst nicht mehr. Immer mehr Menschen werden vom Arbeitsmarkt und damit von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen: Ältere Personen ebenso wie Menschen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten oder Frauen und Männer mit Migrationshintergrund.

 Achtung, Anerkennung und Würde sind nötig, um die gegenwärtigen und künftigen sozialen Herausforderungen als Staat und Gesellschaft gut und solidarisch zu meistern. Doch diese Begriffe sind in der derzeitigen sozialpolitischen Debatte keine zentralen Werte. Im Gegenteil: Achtung, Anerkennung und Würde werden mit Füssen getreten, indem etwa langzeitarbeitslose Menschen und Mindestsicherungs-Bezieherinnen beschämt werden und an ihren Hoffnungen und Perspektiven gekürzt wird. Das zeigt sich an der abgeschafften Aktion 20.000 für langzeitarbeitslose, ältere Menschen ebenso wie an der nun im Raum stehenden Streichung der Notstandshilfe, die bis zu 160.000 Menschen in Armut stürzen könnte.

Gerechtigkeit besteht dann, wenn ein gutes Leben für alle möglich ist.  Dazu gehört auch die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten. Die zentrale Frage ist, ob benachteiligte Menschen gesehen und ernst genommen, oder, wie das leider derzeit oft der Fall ist, gegeneinander ausgespielt werden. Wir haben in Österreich ein gutes soziales Netz, auf das wir zu Recht stolz sein können und das es zu stärken und zu schützen gilt. Machen wir uns gemeinsam dafür stark, etwa über die Initiative www.wir-gemeinsam.at

Als großer Hebel der Veränderung kann eine Neudefinition von Arbeit wirken: Arbeit ist viel mehr als Erwerbsarbeit. Wer Kinder großgezogen oder Eltern gepflegt hat, wer sich ehrenamtlich für ein soziales oder politisches Anliegen engagiert oder auch sich selbst fortbildet, der weiß, dass das ebenso Arbeit ist. Machen wir uns gemeinsam auf den Weg, Arbeit neu zu bewerten und neu zu verteilen. Als unerlässlichen Beitrag für eine zukunftsweisende Politik und ein solidarisches Miteinander.

Judith Pühringer
Arbeitsmarktexpertin der Armutskonferenz und Geschäftsführerin von arbeit plus – Soziale Unternehmen Österreich
www.arbeitplus.at