Bernhard Leubold: Sozialhilfe neu

Geldleistungen kürzen und besonders Bedürftige bestrafen.

Die österreichische Bundesregierung beschloss am 28.11.2018 eine Reform der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS). Aktuell (Stand 2017) beziehen 307.853 Personen BMS (davon 34% Frauen, 31% Männer und 35% Kinder). Bloß 10% erhielten den maximal möglichen Betrag, während ein großer Teil (Wien 2016: 64%) „AufstockerInnen“ waren: BezieherInnen äußerst geringer Einkommen (sowohl Erwerbseinkommen als auch Arbeitslosengeld oder Notstandhilfe) wurden auf den Betrag der Mindestsicherung aufgestockt. Die anspruchsberechtigten Menschen gehören zu den Ärmsten in Österreich.

Für diese 3,5% der Bevölkerung wurden zuletzt bloß 0,9% des Sozialbudgets über die Mindestsicherung ausgegeben. Bei einer Sozialausgabenquote von 29,5% handelt es sich also um etwas weniger als drei Promille der Wirtschaftsleistung Österreichs. Die nun geplanten Kürzungen führen somit bloß zu marginalen Veränderungen im Promille-Bereich des Gesamtbudgets. Für die Betroffenen sind die finanziellen Einbußen hingegen prozentuell deutlich größer. Neben Menschen mit Migrationshintergrund sind vor allem kinderreiche Familien von weiterer Verarmung betroffen.

„Sozialhilfe neu“ – Herkunfts- und Kindermalus statt gleiche Würde und Rechte für alle

Die Mindestsicherung soll österreichweit als „Sozialhilfe neu“ vereinheitlicht werden und die BMS ablösen. Die Regierung orientierte sich bei der Vereinheitlichung an den niedrigsten Sätzen der bisher verantwortlichen Landesregierungen. Diese niedrigsten Sätze sollen nun als neue Maximalbeträge gelten. Das bedeutet je nach Bundesland deutliche Einbußen für sozial Bedürftige. Die aktuelle Reform sieht vor, dass es weitere Nivellierungen nach unten geben soll. 300 Euro des neuen Basisbetrags von 863,04 Euro (für alleinstehende Personen; Paare bekommen max. 1.208,26) im Monat sollten nämlich bloß als „Arbeitsqualifizierungsbonus“ ausbezahlt werden. Dieser sogenannte „Bonus“ steht nur Menschen mit österreichischem Pflichtschulabschluss zu. Alle anderen müssen Deutschkenntnissen auf B1-Niveau oder Englischkenntnissen auf C1-Niveau nachweisen, um Anspruch auf den vollen Betrag zu haben. MigrantInnen haben es daher deutlich schwieriger, die vollen 863,04 Euro zu erhalten. Für sie soll in Wirklichkeit ein „Herkunftsmalus“ gelten.

Auch eine weitere geplante Reformmaßnahme sorgte für Unverständnis bei vielen BeobachterInnen: Der neue Malus bezieht sich nämlich nicht bloß auf die Herkunft der Hilfebedürftigen, sondern auch auf die Größe ihrer Familien. Der ausbezahlte BMS-Betrag reduziert sich nämlich exponentiell mit der Anzahl der Kinder: So bekommen Elternpaare für das erste Kind noch 215,76 Euro, das zweite ist nur noch 129,46 Euro wert und ab dem dritten Kind sinkt der Betrag auf 43,15 Euro. Alleinerziehende Eltern bekommen zwar geringfügig mehr, aber auch bei ihnen sinkt der Betrag exponentiell vom ersten Kind (315,76) bis zum vierten und danach folgenden Kindern (68,15). Daher gehören kinderreiche Familien zu den Hauptbetroffenen der Kürzungen. Ab dem dritten Kind müssen 1,40 Euro pro Tag ausreichen. Das widerspricht nicht nur dem Grundsatz der Gewährung gleicher Würde für alle. Dadurch steigt auch die Gefahr akuter Verarmung von Kindern. Der „Herkunftsmalus“ der „Sozialhilfe neu“ wird daher ergänzt durch einen „Kindermalus“.

„Sozialhilfe neu“ und katholische Soziallehre – Würdevolles Leben für die Ärmsten?

Diese Maßnahmen stehen in krassem Widerspruch zu zentralen Prinzipien der katholischen Soziallehre. Seit der ersten päpstlichen Sozialenzyklika Ende des 19. Jahrhunderts betont die Soziallehre die Zentralität der menschlichen Würde und die Zusammenhänge von Würde mit dem Erwerbsarbeitsleben, den Arbeitsbedingungen und dem dafür erhaltenen Einkommen.

Die in Europa übliche Definition von Armut richtet sich nach dem Median-Einkommen – wer weniger als 60% des Einkommens des mittleren Einkommens der Bevölkerung verdient, gilt als arm. Je nachdem, wie viele Familienmitglieder von einem Erwerbseinkommen versorgt werden müssen, variiert der Wert (1.238 Euro für einen 1-Personen-Haushalt; 2.971 für 2-Personen-3-Kinder-Haushalt). Dieser Betrag gilt zwar in der EU als offizielle Armutsgrenze, ist im Prinzip aber ein Indikator für Ungleichheit, der nicht misst, ob man sich Alltagsgüter leisten kann, sondern wie viel man relativ zum Rest der Bevölkerung verdient. Es spricht zwar einiges dafür, Armutsgefährdung so zu definieren, weil Armut von der Teilhabe am gesellschaftlich Üblichen abhängt.

Die wichtigste wissenschaftliche Grundlage für eine genauere Bestimmung von Armut liefern Referenzbudgets, die berechnen, wie viel Geld ein Haushalt monatlich bei bescheidener Lebensführung benötigt, um nicht in Armut und sozialer Ausgrenzung leben zu müssen. Neben den Ausgaben für Wohnen, Kleidung, Gesundheit und Ernährung betrifft das auch bescheidene Ausgaben für Kultur und soziales Leben sowie Körperpflege. Eine einzelne Person braucht dem zufolge 1.393 Euro pro Monat, während ein Paar mit drei Kindern schon 4.151 Euro monatlich benötigen würde, um angemessen am gesellschaftlichen Leben Österreichs teilhaben zu können. Referenzbudgets geben eine Orientierung, wie viel Geld in Österreich tatsächlich monatlich benötigt würde, um würdevoll leben zu können und Teilhabe zu erfahren. Wenn man also von den Konsumbedürfnissen ausgeht, zeigt sich, dass nicht nur viele Sozialleistungen weit davon entfernt davon sind, gesellschaftliche Teilhabe zu sichern, sondern vielfach auch die Erwerbseinkommen. Referenzbudgets verweisen somit auch auf die Notwendigkeit, zusätzlich die gesamtgesellschaftliche Verteilung von Vermögen und Einkommen (insbesondere die Verteilung zwischen Kapitaleinkommen und Lohneinkommen) in den Blick zu nehmen.

Laut Angaben der Regierung reduziert sich der Mindestsicherungsbetrag nach der geplanten Reform von 2.590,- auf 2.190,- pro Monat für Familien mit drei Kindern. Die Nichtregierungsorganisation SOS Mitmensch errechnete sogar einen deutlich niedrigeren Betrag von bloß 1.597,- pro Monat. In beiden Fällen handelt es sich um Beträge ohne Herkunftsmalus. Der Kindermalus sowie die generelle Kürzung der Ausgaben führen im Vergleich zur aktuellen Situation in Wien selbst bei konservativen Schätzungen der Regierung auf 400,- pro Monat. Die Differenz zur Armutsgrenze beträgt somit 780 Euro im Monat – selbst für eine Familie, deren Eltern in Österreich ihre Pflichtschule absolvierten. Kommt neben dem Familienmalus noch der Herkunftsmalus ins Spiel, reduziert sich der Betrag laut Angaben der Regierung nochmals von 2.190,- auf 1.684,- pro Monat. Die Familie erhält somit ein monatliches Einkommen, das etwa tausend Euro unter der Armutsgrenze liegt. Zur umfassenderen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fehlt dann noch deutlich viel mehr Geld.

Bestrafung der Bedürftigen statt Hilfe zur Selbsthilfe

Sehr oft werden die Sozialreformen mittels des Grundsatzes der Subsidiarität argumentiert, der seit 1931 in der katholischen Soziallehre etabliert ist. Subsidiarität bezieht sich auf das Grundprinzip der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ und hat somit zwei Richtungen: Einerseits wird der Mensch als eigenverantwortliches Wesen verstanden, der mit möglichst wenig Einmischung des Staates oder fremder Personen leben können sollte. Andererseits gebietet die Subsidiarität aber auch Hilfe der Stärkeren für die Schwächeren, die sich aus Problemlagen nicht alleine befreien können. Der staatliche Umgang mit den Ärmsten in Österreich ist nun leider immer weniger von Hilfe zur Selbsthilfe, sondern vielmehr durch die staatliche Entledigung von Verantwortung geprägt, die eher als Stoß ins selbstverantwortete Unglück bezeichnet werden kann.

Besonders deutlich wird das Abweichen von der Subsidiarität beim Herkunftsmalus: Einerseits verlieren Menschen mit Migrationshintergrund durch die Kürzungen bei Integrations- und Sprachkursen Möglichkeiten der Unterstützung bei ihren Anstrengungen zur Integration. Andererseits werden sie aber dafür bestraft, sich nicht ausreichend zu integrieren. Wenn die Pflichtschule und evtl. weitere Ausbildung außerhalb Österreichs absolviert wurde, erschwert das jetzt nicht bloß die Anerkennung ihrer Ausbildung, sondern wird auch finanziell bestraft, wenn diese Menschen in Notlagen geraten.

Die neuen Auszahlungsbeträge sind außerdem Maximalbeträge, die kaum Spielraum nach oben zulassen. Die offizielle Stellungnahme der Regierung im Vorblatt zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz betont sogar „ein gewisses Einsparungspotential für die Länder“, da das „gegenständliche Gesetzesvorhaben an einigen Stellen Kann-Bestimmungen ausweist und andererseits den normierten Höchstbeträgen, die auch unterschritten werden können“. Den ausführenden Stellen auf Landesebene wird somit sogar suggeriert, die ohnehin schon geringen Beträge noch weiter zu reduzieren.

Bemessen an den Staatsausgaben handelt es sich um äußerst geringfügige Promillebeträge, die eingespart werden. Kinderreichen Familie, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, müssen hingegen auf hohe Prozentsätze ihres Monatseinkommens verzichten. Durch die zusätzlichen Kürzungen der Integrationsmaßnahmen verlieren besonders bedürftige Personen Möglichkeiten der Weiterbildung. Nun werden sie zusätzlich auch durch den Herkunftsmalus bestraft. Statt der Ermöglichung, ein menschenwürdiges Leben zu führen, setzt die Regierung auf akute Armutsgefährdung.

Plan zur Abschaffung der Notstandshilfe

Weiters plant die österreichische Bundesregierung auch eine Reform der Notstandshilfe, die von 157.483 Personen (40% Frauen, 60% Männer) in Anspruch genommen wird. 80% sind österreichische StaatsbürgerInnen, etwa 50% sind älter als 45 Jahre und 35% haben gesundheitliche Einschränkungen. Während aus Regierungskreisen betont wird, dass die Notstandshilfe auch im System eines „Arbeitslosengeldes neu“ erhalten bleibe, berechnete eine im Auftrag des Sozialministeriums erstellte Studie des WIFO, dass die aktuell geplante Abschaffung der Notstandshilfe nur für ca. 23% der BezieherInnen den Bezug von Arbeitslosengeld ermöglichen würde, während die überwiegende Mehrheit von etwa 121.000 arbeitslosen Menschen ihren Anspruch verlieren würden und somit auf die Bedarfsorientierte Mindestsicherung angewiesen wären. Unter diesen 77% der VerliererInnen sind 37.000 Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder Behinderungen, etwa ein Drittel ist älter als 50 Jahre.

Die Abschaffung der Notstandshilfe betrifft ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung sozialer Sicherheit: Im Gegensatz zu den Regelungen der Mindestsicherung gibt es bei der Notstandshilfe keine Vermögensgrenze. Nach Abschaffung gilt die Vermögensobergrenze von etwa 5.200 Euro auch für die 121.000 betroffenen ehemaligen Sozialhilfe-EmpfängerInnen. Die Betroffenen müssen erst ihre Ersparnisse aufbrauchen und ihr Eigentum (beispielsweise ein Auto, das nicht zur Berufsausübung nötig ist) verkaufen, bevor sie berechtigt sind „Sozialhilfe neu“ zu beziehen. Bloß Eigenheim bleibt ausgelassen, der Staat wird aber nach 3 Jahren ins Grundbuch eingetragen. Außerdem dürfen BezieherInnen der BMS (nach der Reform „Sozialhilfe“) auch nicht geringfügig dazu verdienen wie BezieherInnen von Notstandshilfe oder Arbeitslosengeld, sondern dürfen bloß „aufstocken“: Verdienen sie mit Erwerbsarbeit weniger als den Betrag der BMS, wird die BMS bis zur Auszahlungshöhe auf den Verdienst „aufgestockt“.

Diese beiden Regelungen sind zentrale Eckpfeiler der „Hartz 4“-Gesetze in Deutschland, die nun auch in Österreich auf eine deutliche größere Anzahl von Menschen ausgeweitet werden sollen. Auch die jüngste Reform der Notstandshilfe wird dadurch hinfällig: Seit Juni 2018 ist der Bezug nicht mehr an das Haushaltseinkommen, sondern an das persönliche Einkommen gekoppelt. Diese Maßnahme, die tendenziell besonders Frauen zu Gute kam, wird nun rückgängig gemacht, bevor sie ausreichend in Kraft war, um evaluiert werden zu können.

Bestrafung von Armut, Herkunft und Kinderreichtum statt Existenzsicherung

Ausgehend von einem christlich-sozialen Bewusstsein, sagte einst Helmut Kohl, dass die Menschlichkeit einer Gesellschaft sich nicht zuletzt daran zeigt, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht. Dieses Bewusstsein lässt die aktuelle österreichische Bundesregierung in den Reformen der „Sozialhilfe neu“ vermissen. Um Einsparungen im Promille-Bereich des Staatsbudgets zu erzielen, sind sozial Bedürftige gezwungen, auf Beträge zu verzichten, die einen hohen Prozentanteil ihres Monatseinkommens entsprechen, das ohnedies schon unter der Armutsgrenze lag. Ausbildung außerhalb Österreichs wird nun ebenso bestraft wie Kinderreichtum. Verarmung und Verelendung der schwächsten Mitglieder sind die abzusehenden Folgen einer Politik, die sich immer deutlicher von den Grundsätzen christlicher Nächstenliebe und sozialer Gerechtigkeit entfernt.

Bernhard Leubolt
Ökonom und Politikwissenschafter, Mitarbeiter der ksoe, Forschungs- und Grundlagenarbeit zu Demokratie, Sozialstaat, Zukunft der Arbeit, sozio-ökologische Transformation.

Quelle: https://blog.ksoe.at

Sozialhilfe neu – Geldleistungen kürzen und besonders Bedürftige bestrafen

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