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Die Entfremdung des Menschen: Die christlich-soziale Wurzel ist tot.

Am 22. Februar 2018 veranstaltete die Initiative „Christlich geht anders“ und der Kath. AkademikerInnenverband Wien im Otto-Maurer-Zentrum in Wien eine Podiumsdiskussion zum Thema „Solidarische Antworten auf die soziale Frage Welche Antworten gibt die neue Regierung darauf?“. Der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister diskutierte mit Wirtschaftskammer-Vertreter Rolf Gleißner über das neue Regierungsprogramm. Die Moderation führte ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner. 

Vorweg: Die Diskussion wurde sehr kontroversiell geführt und vom Publikum teilweise sehr emotional mitgetragen. In ihrer Einleitung wies Magdalena Holztrattner darauf hin, dass das Regierungsprogramm insgesamt 180 Seiten umfasse, darin seien ungefähr 25 Seiten dem Thema Fairness und Gerechtigkeit zugeordnet, und hier wieder vier Seiten dem Thema Soziales und Konsumentenschutz.

Gleißner: Regierung gibt richtige Antworten

Rolf Gleißner, stellvertretender Abteilungsleiter für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer Österreich, betonte, dass das neue Regierungsprogramm durchaus die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft gebe. „Im Vergleich mit anderen Ländern in Westeuropa steht Österreich sehr gut da“, sagte der Wirtschaftskammer-Vertreter, und nannte auch Beispiele: Die Einkommen seien gleichmäßig verteilt und hätten sich relativ stabil entwickelt; die absolute Armut habe sich seit 2008 fast halbiert, die Armutsgefährdung sei unterdurchschnittlich. Die Mindestsicherung sei auf einem wesentlich höheren Niveau als in Deutschland. Österreich könne einen lückenlosen Sozialstaat vorweisen. Doch: „Natürlich hat der Sozialstaat Schwächen und muss angepasst werden an die Zukunft“, so Gleißner. „Die Kehrseite ist natürlich, dass ein Sozialstaat auch teuer ist.“ Die Abgabenquote von rund 43 Prozent sei sehr hoch; die Hälfte der Staatseinnahmen gehe in das Sozialsystem. Die Österreicherinnen und Österreicher gingen auch relativ früh in Pension, das sei „eine Schwäche des Sozialstaats“. Gleißner: „Wir haben einen relativ hoher Anteil von Beziehern von Mindestsicherung, vor allem in Wien. Und wir haben eine extrem hohe Regelungsdichte in Österreich.“ Das Regierungsprogramm gebe hier die richtigen Antworten. „Das fängt an beim Thema Arbeitszeit, wo wir als Wirtschaftskammer uns mehr Flexibilität wünschen. Es gibt Handlungsbedarf im Bereich Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestsicherung – auch dort muss man einige Anpassungen vornehmen. Wir wollen nicht den Sozialstaat in Frage stellen, aber man darf nicht jedes Detail für sakrosankt erklären.“

Schulmeister: Im Neoliberalismus verliert Solidarität ihren Wert

Anderer Meinung ist hingen Stephan Schulmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und Mitinitiator der Initiative „Christlich geht anders.“ Er sieht, dass sich seit den 70er-Jahren die Ideologie des Neoliberalismus immer mehr durchgesetzt hat. Diese Ideologie „geht von der Vorstellung aus, der Mensch ist in seinem Wesen nur ein Individuum, das eigennützig und rational ist“, so der Wirtschaftsforscher. Dieses Menschenbild wirke sich jetzt bis ins kleinste Detail in die aktuelle Politik und damit auch auf das aktuelle Regierungsprogramm aus. Schulmeister im O-Ton: „Wenn der Mensch nur ein eigennütziges Wesen ist, dann hat Solidarität keinen Wert mehr.“

Die Prinzipien des Neoliberalismus und der katholische Soziallehre stünden in diametralen Gegensatz. Die Krise Europas, die sich nach Schulmeisters Ansicht noch vertiefen wird, „liegt in der Entfremdung der Menschen von dem, was eigentlich unsere Grundwerte und unsere über Jahrhunderte gewachsene Lebensgewohnheiten sind“. Doch Europa schwächt die Sozialstaatlichkeit Schritt für Schritt – und das seit 30 Jahren. „Dieses Regierungsprogramm unterstütze diese Tendenz vehement“, weist Schulmeister darauf hin. Und weiter: „Ich habe mir die inhaltlichen Punkte angesehen wie Kürzung des Arbeitslosengeldes, der Mindestsicherung insbesondere für Flüchtlinge, ich sage, das ist ein richtig neoliberalistisches Programm, das nachmacht, was in anderen Ländern schon vorexerziert wurde.“ Das Bedrückendste für ihn aber sei, dass dieses Programm federführend von einer Partei ausformuliert und durchgesetzt wurde, die über Jahrzehnte eine christlich-soziale Wurzel hatte. Schulmeister: „Diese Wurzel ist tot.“

Auch die Zukunftsaussichten wurden von den beiden Experten unterschiedlich bewertet; während Stephan Schulmeister eine „Vertiefung der Finanzkrise“ befürchtet, hält Rolf Gleißner eine „Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung“ für möglich.

„Christlich geht anders“ ist ein breites Bündnis von sozial engagierten ChristInnen, kirchlichen (Laien-)Organisationen (darunter die Ordensgemeinschaften Österreich) und AmtsträgerInnen sowie Hilfsorganisationen der Zivilgesellschaft.

rsonnleitner

Von den 120 BesucherInnen kamen Rückfragen auf hohem wirtschafts- und sozialpolitischem Niveau. Das zentrale Interesse betraf die Arbeitsmarktpolitik. Finanzmarktpolitik und Europa waren ebenso Aspekte in der Diskussion. Das Publikum brachte zusätzlich Themen zur Sprache, wie Chancen am Arbeitsmarkt für ältere Menschen, menschenwürdiges Dasein, Umverteilung von unten nach oben, menschenverachtender Umgang mit Arbeitslosen und Flüchtlingen, etc. Von den Experten am Podium wurden auch sehr unterschiedliche Zukunftsbilder gezeichnet, über mögliche/wahrscheinliche kommende Krisen (Vertiefung der Finanzkrise) von Schulmeister, wohingegen Gleissner zuversichtlich eine Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung für möglich hält.

Begrüßung: Gabriele Kienesberger (Kath. Arbeitnehmer/innenbewegung Wien, KAB)
Moderation: Magdalena Holztrattner (Kath. Sozialakademie Österreich, ksoe)

Hans Peter Hurka: Christlich geht anders, weil …

Anerkennung und Achtung der gleichen Würde aller Menschen, Hilfe denen, die Hilfe brauchen zu gewähren, ehrlich und offen allen Menschen zu begegnen, gerechter Lohn und faire Preise sowie ein gemeinschaftsfördernder Umgang mit Eigentum gehören zum Kern der christlichen Botschaft.

Dementsprechend verhindert eine christlich geprägte Gemeinschaft Entsolidarisierung, Ausbeutung von Mensch und Natur, Diskriminierung oder Leistungsprämissen, die menschliches Leben schädigen und Hilfe erst nach vorangehender Leistung gewähren. Anhäufen von Eigentum für ausschließlich eigene Interessen, Sparen auf Kosten anderer stehen dem Prinzip des Teilens im Wege. Wer diejenigen abweist die hilfesuchend bitten schädigt nicht nur diese, sondern die ganze Gemeinschaft.

Glück und Heil sind nur im wohlwollenden vertrauensvollen Miteinander und nicht im übertrumpfenden, ruinösen Wettbewerb zu erreichen.

So gut wie alle Religionen kennen die „goldene Regel“. In der Feldrede schreibt Lukas: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“ (Lk 6,31) Auch im Islam gilt: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“

Es ist jene Form der Wahrheit, aus der Gottes Weisheit und Wille spricht. „Leben und leben lassen“ ist dafür nicht nur eine kurz gefasste Volksweisheit, sondern hat sich auch als gute, praktische Richtschnur bewährt.

Trotzdem erleben wir: Nachbarn kennen einander nicht, geflüchtete Menschen werden als Bedrohung erlebt, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes nimmt zu. Der Druck am Arbeitsplatz steigt, die Kosten für den Lebensunterhalt oder für die eigene Krankheitsbehandlungen ebenso. Reaktionen darauf sind, dass viele das zusammenhalten versuchen was sie haben, um für Veränderungen gewappnet zu sein. Solche Individuallösungen haben aber wenig Chancen die befürchtete Not abzuwenden.

„Christlich geht anders“! Wer dem Beispiel Jesu folgt ist offen für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, sozialer Stellung oder Religionszugehörigkeit. Wer mehr hat gibt dem der es braucht, individuell und gesellschaftlich. Neiddebatten, unbedingtes Streben nach dem eigenen Vorteil, Ausnützen der Allgemeinheit, gegenseitiges Aufrechnen, herabwürdigende Äußerungen oder Handlungen etc. dürfen keinen Platz finden. Dafür sind alle Christinnen und Christen in unserem Land verantwortlich.

Niemand hat das Recht, einem anderen Menschen Lebenschancen vorzuenthalten. Was ich bin, habe oder kann ist nicht nur meine eigene Leistung, sondern auch das Ergebnis aus dem Wohlwollen meiner Mitmenschen. Deshalb habe ich es so einzusetzen, damit andere Menschen in Gerechtigkeit, Frieden und mit Freude leben können. Gerade angesichts der neuen Bundesregierung und in Zeiten, wo viele sich selbst oder „ihr“ Land zuerst gereiht sehen wollen ist mit großer Aufmerksamkeit darauf zu achten, dass unsere Demokratie weiterentwickelt und nicht ausgehöhlt wird, Sozialleistungen den Schwächeren ausreichend zur Verfügung gestellt und nicht nur generell gekürzt werden, und die Wohlhabenderen mit jenen teilen, die zu wenig haben um menschenwürdig mit uns zu leben.

Jeder Einzelne und jede Gemeinschaft, sei sie kirchlich, kommunal, regional, bundesweit oder weltweit kann nur gewinnen, wenn sie sich daran orientieren. Rezepte gibt es, umgesetzt müssen sie werden!

Hans Peter Hurka
Sprecher des Netzwerks: zeitgemäß glauben
www.zeitgemaess-glauben.at

Christoph Konrath: Das Regierungsprogramm und die Bundesverfassung

Hindernisse und Umwege

Im Wahlkampf 2017 und während der Regierungsverhandlungen wurde immer wieder die Befürchtung geäußert, dass eine ÖVP-FPÖ-Koalition einen vollständigen Umbau der Staatsorganisation durchführen werde. Am Beispiel Ungarns oder Polens wurde auf die Gefahren von maßgeblichen Verfassungsänderungen hingewiesen. Solche Änderungen haben in den letzten Jahren tatsächlich in Ungarn stattgefunden. In Polen werden sie vorbereitet, aber es ist unklar, ob es derzeit die erforderlichen Mehrheiten dafür geben würde.

Im Programm der neuen Bundesregierung werden viele Maßnahmen angeführt, aber die Vorschläge für Änderungen der Bundesverfassung (und nur mit solchen könnte eine grundlegende Veränderung der Staatsorganisation vorgenommen werden) beschränken sich auf einige eher unzusammenhängende und nicht näher ausgeführte Punkte unter der Überschrift „Moderner Verfassungsstaat“ (S. 21). Diese reichen von der Schuldenbremse in der Verfassung, über die Evaluierung der parlamentarischen Abläufe, über das Recht auf Bargeld, ein Staatsziel Wirtschaftswachstum bis zur Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung. Das sind alles Themen, die auf Vorschläge der nunmehrigen Koalitionspartner aus den letzten Jahren zurückgehen. Zu manchem finden sich da nähere Ausführungen, aber insgesamt bleibt es sehr offen.

Weitere Maßnahmen, die Änderung der Bundesverfassung voraussetzen, betreffen die Verbesserung und Neuordnung der Kompetenzverteilung (also der Zuständigkeiten zur Gesetzgebung in bestimmten Fragen) zwischen Bund und Ländern. Auch das ist nicht weiter neu und findet sich praktisch (freilich mit unterschiedlichen Schwerpunkten) in allen Regierungsprogrammen seit den 1990er-Jahren.

Was aber auffällt ist, wie über die Bundesverfassung selbst im Regierungsprogramm gesprochen wird.

Im Vorwort wird das „Fundament“ genannt, auf dem die neue Regierung tätig werden will: „[Es] setzt sich zusammen aus der österreichischen Verfassung, der immerwährenden Neutralität, den Grundprinzipien der Europäischen Union, aber auch den Grund- und Menschenrechten, den bürgerlichen Freiheiten sowie den Rechten von Minderheiten.“

Diese Aussage klingt selbstverständlich. Auffallend ist, dass hier und an vielen anderen Stellen des Regierungsprogramms allgemein von der österreichischen „Verfassung“ die Rede ist. Damit ist wohl die Bundesverfassung gemeint, aber nur einmal im gesamten Regierungsprogramm und zwar im Kapitel über Kultur wird sie ausdrücklich so bezeichnet. Das mag pedantisch klingen, aber es kann auch ein Hinweis darauf sein, wie unbestimmt die Vorstellungen von Politikerinnen, Politikern und ihren Stäben im Hinblick auf Verfassung und Verfassungsrecht in Österreich sind. Das zeigt sich auch darin, dass neben der „Verfassung“ die Neutralität, Grundprinzipien der EU, Grund- und Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Rechte der Minderheiten genannt werden. Das sind jedoch alles Regelungen, die zum Kernbestand von Verfassungsrecht im Allgemeinen und in Österreich ganz besonders zählen.

Mehr über die „Verfassung“ kommt erst im Kapitel über Integration. Dort heißt es: „Von jenen Personen, die rechtmäßig und dauerhaft in unserem Land leben, wird eingefordert, dass sie sich aktiv um ihre Integration in die Gesellschaft und ihr Fortkommen bemühen sowie unsere verfassungsmäßig verankerten Werte hochhalten. Nur auf dem Fundament dieser gemeinsamen Wertebasis kann ein friedliches Zusammenleben funktionieren. Erst das Leben dieser Werte ermöglicht eine erfolgreiche Integration in Österreich.“ (S. 37)

Interessant ist, dass „Verfassung“ hier nur im Zusammenhang mit „Werten“ erwähnt wird, die von jenen eingefordert werden, die „rechtmäßig“ hier leben. Das ist bemerkenswert, denn die österreichische Bundesverfassung zeichnet sich seit jeher durch ihre Rechtsförmlichkeit aus. Werte waren bisher ihre Sache nicht.

Die konflikthafte Ausgangssituation der Republik führte zu einer Einigung auf eine oft als „Spielregelverfassung“ bezeichnete Handlungsgrundlage. Es ging darum, klare und transparente Regelungen für die Handlungs- und Gestaltungsmacht der einzelnen Staatsorgane und deren Kontrolle zu schaffen. Der Spielraum für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen sollte möglichst klar abgrenzbar sein.

Mit ihrem Bekenntnis zu „verfassungsmäßigen Werten“ gerade an dieser Stelle reiht sich die Bundesregierung in eine Entwicklung ein, die wir seit einigen Jahren beobachten können. An die Stelle der als problematisch wahrgenommenen Debatten über eine „Leitkultur“ ist die Forderung eines Bekenntnisses zur jeweiligen Verfassung getreten. Dahinter steht zunächst die Erinnerung daran, dass der säkulare und freiheitliche Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern keine Überzeugungen oder gar Werte vorschreiben könne. Vielmehr bilde seine Verfassung die Grundlage für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Sie garantiere die Rechte jeder und jedes Einzelnen und lege den Rahmen fest, in dem diese und der Staat handeln sollen. Das ist ein universalistischer Ansatz, der in jedem Staat konkretisiert werden muss. Das ist dann aber weniger eine Aufgabe der Verfassung selbst als ihrer Vermittlung.

Allerdings lässt sich dieser universalistische Ansatz auch umdrehen. Nämlich dann, wenn davon ausgegangen wird, dass Verfassungsrecht, Demokratie und Menschenrechte nur im Westen oder in einem bestimmten Staat unter bestimmten Bedingungen entstanden sind, und daraus geschlossen wird, dass es einer bestimmten kulturellen Grundierung braucht, um sie überhaupt verstehen und gebrauchen zu können. Dann spricht man zwar von „verfassungsmäßigen Werten“ meint aber „Leitkultur“.

Das Regierungsprogramm lässt eine nähere Erläuterung offen. Die Tendenz scheint mir aber – nicht zuletzt aufgrund des konkreten Kontexts der Erwähnung – klar erkennbar.

Allerdings stellt sich dann die Frage, welche Werte nun in Österreich „verfassungsmäßig“ seien. Im sogenannten Bundes-Verfassungsgesetz, dem Hauptdokument der Bundesverfassung, kommen „Werte“ genau einmal vor. In Artikel 14 Absatz 5a werden sie im Rahmen der Aufgaben der Schulen genannt.

Weder im Text noch in der Diskussion über die Bundesverfassung haben Werte bislang eine große Rolle gespielt. Das hängt mit der bereits erwähnten Entstehungsgeschichte, der lange dominierenden betont nüchternen Zugangsweise der Rechtswissenschaft in Österreich aber vor allem mit dem instrumentellen Verständnis von Verfassungsrecht in der Politik gerade auch der 2. Republik zusammen. Die Verfassung war und ist demnach ein Gesetz, für das man größere Mehrheiten braucht, mehr nicht. Verfassungsrecht war selten etwas Bedeutsames oder Hervorgehobenes, mit dem man (wie in anderen Staaten) sorgsam umging. Kein anderer Staat der Welt regelt soviel Behördenorganisation wie Österreich in seiner Verfassung. Verfassungsbewusstsein wurde in Österreich kaum je gefördert, und während andere Staaten ihre „Verfassungsurkunde“ prominent ausstellen liegt unsere im Keller des Staatsarchivs. Und diese Einstellung zeigt sich an den meisten anderen Stellen des Regierungsprogramms. Verfassungsänderungen dienen dort dem Effizienzgewinn.

Dieser Befund sollte aber nicht zu vorschnellen Urteilen verleiten. Wertediskussionen in der Politik sind, wie hier schon angeklungen ist, aus vielen Gründen problematisch. Aber die Frage, was die Grundlagen unserer Bundesverfassung sind, was mit ihr angestrebt wurde und welche Bedeutung sie für unser Zusammenleben in Verschiedenheit hat, die muss gestellt werden. Heute wohl mehr denn je.

Was die österreichische Bundesverfassung (trotz allem) auszeichnet, ist die Klarheit und Nüchternheit in ihren Grundlagen, die, wie es Hans Kelsen in seinen demokratietheoretischen Schriften dargelegt hat, auf Gleichheit, Freiheit, Verständigungsbereitschaft und Kompromiss abzielen. Was die Bundesverfassung auszeichnet ist ihre Offenheit und Anschlussfähigkeit. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Menschenrechte und ihrem Fokus auf Gleichberechtigung, der unbedingten Sicherung der Würde jedes Menschen und der politischen Freiheit. Nicht ohne Grund hat Gerald Stourzh am österreichischen Beispiel das Konzept der Grundrechtsdemokratie entwickelt und auf ihre Fragilität hingewiesen. Gerade davon ist im Regierungsprogramm aber nicht die Rede.

Es ist schwierig, einzelne Vorschläge im Regierungsprogramm aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beurteilen. Sie sind oft sehr weit und unbestimmt, und selbst wenn sie detaillierter gefasst sind, bleibt sehr viel offen. Das haben schon zahlreiche Diskussionen und Einschätzungen gezeigt.

An dem, wie aber schon jetzt vor allem über die Rechte von Asylsuchenden, Behördenorganisation oder „Verfahrensbeschleunigung“ diskutiert wird, kann man abschätzen, was kommen kann. Es geht gar nicht so sehr darum, die Bundesverfassung zu ändern (dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit, die nicht so leicht zu bekommen sein wird). Es geht vielmehr darum, wie mit dem, was eigentlich aus der Verfassung folgen sollte, umgegangen wird, wie es in Frage gestellt wird, und wie ausprobiert wird, ob man in der Öffentlichkeit durchkommt und wie lange es dauert, bis es eine Angelegenheit vor den Verfassungsgerichtshof schafft. Den Vorwurf des Verfassungsbruchs kann man kontern, nicht zuletzt mit Kalauern wie „drei Juristen, fünf Meinungen“. Gerade weil es so wenig Bewusstsein für die Verfassung und Wissen über sie gibt, mache ich mir Sorgen, dass die notwendigen – ich sag es jetzt mit einem großen Wort – „geistigen“ Grundlagen der Bundesverfassung untergraben werden. Mit diesen Grundlagen meine ich nicht die  Sicherung  von Werten, sondern die Verankerung von durchsetzbaren Rechten, die Beziehungen zwischen Menschen regeln und jeden Menschen als Rechtssubjekt anerkennen. Mit den Grundlagen meine ich nicht den Schutz der Ordnung, sondern die Sicherung von Verfahren, die Transparenz und vor allem Zeit für Verständigung und Kompromissfindung garantieren.

Das kann abschließend an drei Beispielen konkret werden:

Auf S. 21 wird ohne nähere Erläuterung die „Verankerung der Menschenwürde […] in der Verfassung“ vorgeschlagen. Diese Forderung geht auf den Österreich-Konvent zurück, wo sie aus verschiedenen Gründen – auch von konservativer Seite – zurückgewiesen wurde. Zum einen sind die Menschenrechte Ausgestaltung der Würde, zum anderen ist ein solcher Artikel anfällig für politische Instrumentalisierung. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, was es bedeutet, einerseits die Würde des Menschen zu betonen, aber dann durchgängig Menschen primär nach Herkunft und Leistung zu beurteilen.

Die Freiheitsrechte werden an mehrere Stellen betont. Zugleich wird aber jenes Grundrecht, das historisch und programmatisch die Grundlage für gesellschaftlichen, religiösen und politischen Pluralismus in Europa darstellt, die Religions- und Gewissensfreiheit in Frage gestellt. Das geschieht im Zusammenhang mit dem Islam in Österreich, dem etwa mit dem Ausbau des sogenannten Kultusamts zu einer Religionsbehörde mit umfangreichen Kontrollbefugnissen begegnet werden soll (S. 38).

Nach dem Regierungsprogramm, den ersten Entscheidungen über den Jahreswechsel und die Regierungsklausur soll die Regierungstätigkeit vor allem durch eines geprägt sein: Schnelligkeit. Jetzt kann man darüber streiten, ob das in Österreich gehen wird. Entscheidend ist aber, was hier vermittelt wird: Diskussionen, Abstimmungen, Verfahren (vor Gericht oder in Parlamenten) halten auf. Das ist auch sicher in vielen Fällen zutreffend, und viele von uns wünschen sich, dass wichtige Themen nicht aufgehalten, sondern in Angriff genommen werden. Aber wenn alles „schnell und effizient“ gehen muss, dann wird das, was eine demokratische Verfassung als Sicherungen und Begrenzungen eingebaut hat, nur mehr als lästig und unnötig wahrgenommen.

Christoph Konrath
Jurist und Politikwissenschaftler, Mitglied im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft und engagiert für die politische Bildungsinitiative www.unsereverfassung.at

Traude Novy: Durchschummeln

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Indem wir in den Medien ein wenig die Gerichtsverhandlungen im BUWOG-Prozess verfolgen,  offenbart sich uns ein  erschreckendes Sittenbild von einst mächtigen Akteuren in Politik und Wirtschaft. Natürlich gilt in jedem Fall die Unschuldsvermutung, aber was sich da allein an undurchsichtigen Verschiebungen von Geldern rund um den Erdball zeigt, ist es wert, einen kritischen Blick auf jene „Leistungsträger“ zu werfen, die ständig nach mehr privat und weniger Staat rufen. 

Erinnert sich noch jemand daran, dass die ehrwürdige Industriellenvereinigung dem damaligen Finanzminister Grasser unversteuert eine private homepage finanzierte? Hat noch jemand die Bilder vor Augen, als jener Finanzminister auf „Roadshows“ gegen Honorar die Aktienmärkte und die Privatisierung von Staatseigentum bewarb?  Durch manche dieser undurchsichtigen Transaktionen wurden einige Personen sehr  reich, der Staat aber um sein Vermögen gebracht.

Erinnert sich noch jemand daran, dass in den Boom Jahren an den Börsen den Gemeinden sogar vom Rechnungshof nahegelegt wurde, ihr Geld doch nicht auf Sparbüchern zu parken, sondern es am Kapitalmarkt „arbeiten“ zu lassen? Das ging in den Krisenjahren allerdings kräftig schief.

Man könnte also erwarten, dass sich politisch Verantwortliche damit befassen, wie sie dieses Durchschummeln einflussreicher Menschen in Zukunft verhindern können – aber das Gegenteil ist der Fall.

Wir sind jetzt wieder so weit, dass über die Vermögenden und gut Verdienenden der Schutzmantel ausgebreitet wird. Eigentum jener, die viel davon haben,  wird heiliggesprochen. Von der sogenannten christlich- sozialen Partei ist kein Wort über die Sozialpflichtigkeit des Eigentums als Grundlage der christlichen Soziallehre zu hören. Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer sind vom Tisch, die Reduktion der Unternehmenssteuern ist  im Gespräch. Familien bekommen Steuerermäßigung pro Kind – allerdings nur dann im ganzen Ausmaß, wenn entsprechende Einkommen lukriert werden – Niedrigverdienende schauen durch die Finger.

Und dann wird der Begriff des „Durchschummelns“ völlig zweckentfremdet auf jene angewandt, die keine Spielräume für Vermögenstransfers in Steueroasen haben, die keine Gestaltungsmöglichkeit bei ihrer Steuerpflicht nutzen können und die auch keine Steuerberater beschäftigen können, die ihnen bei der legalen Steuervermeidung helfen.

Durchschummeln tun sich laut Definition unseres Bundeskanzlers jene Notstandshilfebezieher, die noch Eigentum besitzen und dennoch Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung bekommen. Sie sollen deshalb von der Arbeitslosenversicherung nahtlos in die Mindestsicherung fallen. Die Eigentumswohnung, die Ersparnisse eines langen Arbeitslebens, sollen bei den meist älteren und oft gesundheitlich beeinträchtigten Langzeitarbeitslosen zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts herangezogen werden, bevor sie die Mindestsicherung, die noch dazu reduziert werden soll, beziehen können.

Sofort melden sich Menschen zu Wort, die viele Leute kennen, die eigentlich arbeiten könnten, die Immobilien besitzen und alles in allem also „Sozialschmarotzer“  und „Durchschummler“ sind. Da kann das AMS noch so oft erklären, dass es sich dabei um eine verschwindende Minderheit handelt, das Märchen von den vielen, die Sozialbetrug begehen, ist nicht zu entkräften. Ich leugne ja gar nicht, dass es Menschen gibt, die das Sozialsystem überstrapazieren – warum sollen die ärmeren Menschen eigentlich die besseren Menschen sein? Aber im Vergleich zu den Durchschummlern auf der obersten Vermögens- und Einkommensstufe sind das wirklich Lappalien.

Verwunderlich ist für mich nur, wie leicht es Politikern gelingt, Aggressionen und Neidgefühle gegen Menschen am unteren Rand der Gesellschaft  zu wecken und mit welcher Nonchalance steuerliche Tricksereien, Stiftungskonstruktionen, Kapitalflucht und gemessen am volkswirtschaftlichen Nutzen völlig unangemessene Gehälter und Gratifikationen hingenommen werden.

Die deutsche Journalistin Kathrin Hartmann spricht in diesem Zusammenhang von der „Verrohung des Bürgertums“. Abstiegsängste lassen viele Menschen nach einem Sündenbock suchen. Da sie sich aber als Zugehörige des Bürgertums fühlen, solidarisieren sie sich noch immer wesentlich leichter mit den „Reichen und Schönen“ als mit jenen, die noch gefährdeter sind als sie. Mitleidlos wird auf  Langzeitarbeitslose, Migranten und Flüchtlinge herabgeschaut und ihnen die Destabilisierung des Sozialsystems angelastet. Die Profiteure dieses Systems sind dadurch aus dem Schneider und es schaut auch so aus, als hätten nur die allerwenigsten Medien Interesse daran, sich seriös mit der Ungleichheit in unseren Gesellschaften auseinanderzusetzen.

Ich plädiere deshalb dafür, dass zumindest wir Christinnen und Christen dieses Spiel der Verrohung breiter Schichten nicht länger mitspielen und uns unserer Wurzeln besinnen – unser Platz muss auf der Seite der Benachteiligten sein, wenn wir uns und unseren Glauben ernst nehmen.

Traude Novy, Bloggerin

25.1.2018

Lisa Sterzinger: Christlich geht anders, weil …

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… es für eine Regierung erste Priorität sein sollte, Menschenrechtsverträge umzusetzen, die Vorrang gegenüber Freihandels- und Finanzverträgen haben sollten!

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ heißt es schon in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Menschenrechte wurde die Allgemeine Erklärung, die heuer ihren 70. Geburtstag feiert, konkretisiert. Im Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wurde das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard für jederman/jedefrau verbrieft. Österreich hat diesen 1978 – also vor 40 Jahren – ratifiziert.

1993, vor 25 Jahren fand in Wien die UN Weltmenschenrechtskonferenz statt. In der Wiener Erklärung einigte sich die Staatengemeinschaft darauf, dass die Menschenrechte unteilbar und universell gültig sind. Das bedeutet, dass alle Menschenrechte gleich wichtig sind, weil sie sich in ihrer Umsetzung gegenseitig bedingen. Menschenrechtsverletzungen können nicht mit kulturellen Traditionen gerechtfertigt werden. Konkret verständlich wird die Unteilbarkeit, wenn man bedenkt, dass jemand der im dauernden Existenzkampf steht, sich kaum politisch beteiligen kann. Auch Bei Zwangsehe und weiblicher Genitalbeschneidung handelt es sich um Menschenrechtsverletzungen, auch wenn diese – mit dem Argument der Tradition – in manchen Kulturen noch immer verbreitet sind.

Gedenkjahr 2018

Auch diese Anlässe sollen im heurigen Gedenkjahr bedacht werden: Menschenrechtsverträge als Einigungen der Staatengemeinschaft im Sinne von humanitären Werten, die in die Sprache von Recht und Politik übersetzt wurden. Die Wiederholung der Gräuel des Weltkriegs sollte verhindert werden! Unter Einbeziehung von Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus allen Kulturen wurden sie für die aktuellen Problemstellungen kontinuierlich weiterentwickelt.

Die Weltkonferenz 1993 erzeugte die Hoffnung, dass die Systemkonkurrenz überwunden werden und die großen globalen Herausforderungen von Armut, Klimawandel, Migration, und Diskriminierung gemeinsam bewältigt werden könnten.

Soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte entstehen durch politische Programme und Gesetze, in denen Menschenrechte umgesetzt werden. Genau diesen Menschenrechtsansatz fordern wir in der Politik! Es braucht einen Paradigmenwechsel, der das Wohl der Menschen und die Bewahrung natürlicher Grundlagen in den Vordergrund stellt, damit auch die Menschenrechte kommender Generationen erfüllt werden können. Im Gegensatz dazu steht das herrschende neoliberale Paradigma bei dem es darum geht, Wirtschaftswachstum durch freien Handel zu erzielen. Wirtschaften in seiner ursprünglichen Bedeutung von „haushalten“ bedeutet aber: Umgehen, mit dem was vorhanden ist, damit es für alle reicht.

Buen vivir – Gutes Leben für alle

Das südamerikanische Konzept des „Buen vivir“ beruht auf der Philosophie der indigenen Völker Südamerikas, welche die Instrumentalisierung der Natur als Ressource für die Wirtschaft verurteilt und ihr einen intrinsischen Wert zuspricht. „Buen vivir“ verfolgt ein Gleichgewicht mit der Natur, die Reduktion von sozialer Ungleichheit und eine solidarische Wirtschaft mit Rücksicht auf lokale Gemeinschaften. Durch zivilgesellschaftliche Organisationen haben auch benachteiligte Gruppen eine Stimme in den westlichen Demokratien um ihre Menschenrechte und ihre Lebensräume zu verteidigen.

Haushalten, das ist auch das Thema von Schöpfungsverantwortung, die Erde als Lebensraum für alle Menschen und für zukünftige Generationen zu bewahren – das ist auch ein christlicher Wert.

Maga. Lisa Sterzinger
Vorstandsmitglied von FIAN Österreich

www.fian.at
FIAN oder FIAN International, das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk, setzt sich als internationale Menschenrechtsorganisation dafür ein, dass alle Menschen frei von Hunger leben und sich selbst ernähren können.

Lieselotte Wohlgenannt: Arbeitslosenversicherung – wohin geht unsere Gesellschaft?

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Zusammenhalt oder Spaltung?

Ankündigungen, Halbinformationen, Diskussionen: die angekündigten Reformen und Gesetzesvorhaben der neuen türkis-schwarzen Regierung stehen im Zentrum der aktuellen Berichterstattung der Medien. Dabei geht es um Steuerpolitik, Asylwerber, Krankenkassen, und noch einiges mehr. Am meisten diskutiert werden jedoch derzeit eine geplante Neuordnung der Arbeitslosenversicherung, und die Einführung eines Kinderbonus für Familien.

Arbeitslosigkeit

Wesentliche Veränderungen für den Bezug des Arbeitslosengeldes sind geplant, doch wenig ist bisher bekannt. Die Bezugszeiten könnten an die Dauer vorhergehender Beschäftigung gebunden werden, auch die Höhe könnte sich ändern. Sicher scheint, dass die Notstandshilfe, die bisher an das Ende des Arbeitslosengeldbezugs anschloss und in der Dauer nicht begrenzt war, wegfallen soll. Wer keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld hat, soll auf die Mindestsicherung angewiesen sein, die im Kern noch immer die alte Armenfürsorge der Länder ist (die sich natürlich gegen diese Zuweisung wehren). Wer eigenes Vermögen besitzt, muss dieses mehr oder weniger verbrauchen, bevor Sozialhilfe bezogen werden kann.

Dies könnte einerseits jüngere Menschen treffen, die noch keine stabile Arbeitssituation gefunden haben und zwischen kurzen Engagements und Zeiten der Suche noch wenig Anspruchsberechtigung für den Bezug von Arbeitslosengeld erworben haben. Und es trifft ältere Langzeitarbeitslose mit geringerer Qualifikation oder geringfügigen Einschränkungen, etwa gesundheitlicher Art. Aber  nicht nur sie,  selbst Hochqualifizierte, die aus irgendeinem Grund den Arbeitsplatz verloren haben, finden als Über-Fünfzigjährige schwer eine neue Anstellung. Dieser Altersgruppe sollte die Aktion 20.000 zugutekommen, die inzwischen gestrichen wurde.

Wie auch immer die Regelung letztlich aussehen wird, ob Langzeitarbeitslose auf das eigene Vermögen angewiesen sein werden, bleibt offen. Dass sie darüber hinaus öffentlich als Drückeberger und Schmarotzer dargestellt werden, die nicht gewillt sind, angebotene Arbeitsplätze anzunehmen, ist ungerechtfertigt und menschenfeindlich. „Wer sich ein Leben lang durchgeschummelt hat“ soll nicht unterstützt werden – so kürzlich die öffentliche Aussage eines  Politikers!

Schlimm genug, ohne Erwerbsarbeit zu sein – doch wohin geht unsere Gesellschaft, wenn die Erwerbslosen öffentlich als Faulpelze und Schwindler denunziert und ausgegrenzt werden?

Familienförderung

Familien sind das Fundament jeder Gesellschaft. Dass Kinder in guten Verhältnissen aufwachsen können, ist deshalb ein wesentliches Ziel staatlicher Politik. Deshalb soll es ab 2019 einen Familienbonus, d.h. eine jährliche Gutschrift von 1500 Euro pro Kind bis zum Alter von 18 Jahren geben. Dies setzt allerdings voraus, dass Eltern so viel verdienen und so viel Steuern zahlen, dass sie diesen Betrag abziehen können. Bei einem Kind ist dies ab einem Brutto-Monatsverdienst von ca. 2000 Euro der Fall. Im Gegenzug sollen bisherige Absetzbeträge und andere Abschreibmöglichkeiten  von Kinderkosten gestrichen werden. Weil damit viele Familien von Alleinerziehenden ausgeschlossen werden, weil sie zu wenig verdienen und nicht genug Steuer bezahlen, um den Bonus nutzen zu können, soll es für diese Gruppe erhöhte, auszahlbare Absetzbeträge geben.

Dass damit – jedenfalls im österreichischen Steuerrecht – Kinder nicht mehr gleich viel wert sind, führte unmittelbar zur Kritik. Wenn dann die Antworten hochrangiger Politiker lauten: man wolle „keine Förderprogramme für große Zuwandererfamilien“, es gehe darum, „österreichische Familien“ zu entlasten, zeigt sich damit nicht nur gezielte Diskriminierung, sondern auch eine öffentliche Abwertung von Teilen der Bevölkerung. Es sind Menschen, die zu unserer Gesellschaft gehören, und denen nun eine diffuse Art von Schuld angelastet, eine geringere Würde zuerkannt wird.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Gutes Zusammenleben in einer Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn alle Gruppen, alle Bürgerinnen und Bürger friedlich und respektvoll miteinander umgehen. Für ein entsprechendes Klima zu sorgen, ist nicht zuletzt Aufgabe der Politik.

Ob  es sinnvoll und zielführend ist, Familien, die aufgrund ihrer Erwerbssituation entsprechend Steuern zahlen, einen Teil dieser Steuern in Form des Familienbonus zurückzugeben, ist eine Frage, die anderswo zu erörtern wäre. Auch geht es hier nicht darum zu beurteilen, ob strengere Regeln und die Streichung der Notstandshilfe die Arbeitslosenquote senken können.

Wenn jedoch verantwortliche Politiker ihre, zumindest tendenziell diskriminierenden  Gesetzesvorhaben mit Verdächtigungen und Abwertungen ganzer gesellschaftlicher Gruppen öffentlich vertreten, wird damit bewusst eine Spaltung der Gesellschaft gefördert, die den sozialen Zusammenhalt mehr und mehr gefährdet.

Drin Lieselotte Wohlgenannt
freie Mitarbeiterin der ksoe im Themenfeld Soziale Gerechtigkeit

www.ksoe.at

2018-01-15

Karl Immervoll kritisiert „Aktion 20.000“-Stopp

Der langjährige niederösterreichische Betriebsseelsorger Karl Immervoll hat sich enttäuscht gezeigt, dass die Bundesregierung die „Aktion 20.000“ für ältere Arbeitssuchende beendet.
Der Papst-Leo-Preisträger, der für seine vielen Sozialinitiativen im strukturschwachen Waldviertel bekannt ist, bezeichnete die Aktion als „echte Hilfe für ältere Arbeitssuchende“. Denn auch wenn die Wirtschaftsdaten derzeit positiv seien, habe es diese Gruppe „total schwer Arbeit zu finden“. Betriebe würden Arbeitnehmer über 50 Jahren eher abbauen als sie einzustellen, vor allem, wenn sie schon längere Zeit ohne Job waren.

Verlust wertvoller Zeit

Ob es wirklich 20.000 neue Jobs geworden geworden wären, sei dahingestellt, meinte Immervoll am Mittwoch gegenüber Kathpress. Der Hinweis auf den bisher schleppenden Verlauf zähle nicht, denn das beziehe sich auf einzelne Modellregionen: „Bei uns ist die Aktion noch gar nicht angelaufen, das wäre erst ab 1. Jänner gewesen.“ Die mit 30. Juni 2019 befristete Maßnahme auszusetzen, bedeutet nach den Worten des Betriebsseelsorgers jedenfalls, dass wertvolle Zeit vergeht, bis wieder eine Entscheidung fällt.

Die „Aktion 20.000“ wäre aus Immervolls Sicht auch nachhaltig gewesen. Jeder Arbeitssuchende sei froh um jeden Monat Anstellung und damit Pensionsversicherungszeit. Weiters bedeute Arbeit zu haben auch Kontakt und Teilhabe an der Gesellschaft, Arbeitslosigkeit dagegen stehe für „weg vom Fenster“.

„Wurde nicht diskutiert“

Außerdem: Einen neuen Arbeitsplatz zu finden sei von einer Beschäftigung aus leichter als aus der Arbeitslosigkeit, so Immervoll. Da auch Arbeitsstellen im Bereich der Gemeinnützigkeit angedacht waren, wäre dadurch wichtige gesellschaftliche Arbeit entstanden. Immervoll kritisierte auch die Vorgehensweise der Regierung bei der Aussetzung der Aktion: „Über diesen Schritt wurde nicht diskutiert – nicht im Parlament, nicht mit Experten, nicht einmal im Ministerrat.“

religion.ORF.at/KAP

Sternsingeraktion: Weihnachtsbotschaft und solidarischer Sozialstaat gehören zusammen

Sternsingerinnen und Sternsinger bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen in der Hofburg.

Das neue Jahr begann auch heuer mit einer „Tour“ der Nächstenliebe. 85.000 Sternsingerinnen und Sternsinger waren in ganz Österreich unterwegs. Sie erbitten den Segen für jedes Haus und werden so auch zum Segen für arm gemachte Menschen in den benachteiligsten Regionen unseres Planeten. Durch die Botschaft von der Geburt Christi und dem solidarischen Engagement trägt das Sternsingen auch eine höchst aktuelle Botschaft in sich. Diese wurde bei zahlreichen Besuchen den Vertreterinnen und Vertreter der österreichischen Politik überbracht:

 

von links. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (V) mit den Sternsingern, rechts im Bild der Geschäftsführer der Dreikönigsaktion Jakob Wieser

Sehr geehrte Damen und Herren,

es freut uns, dass Sie die Heiligen Könige empfangen. Herzlichen Dank für die freundliche Einladung. Die Sternsingergruppe bringt Ihnen persönlich den Segen für das kommende Jahr. Möge das Jahr 2018 viel Freude und Frieden für Sie, Ihre Familie und all Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereithalten.

Das Jahr 2018 soll aber auch für ganz Österreich ein gutes Jahr sein. Wir wünschen uns gegenseitigen Respekt, ein friedliches Zusammenleben und Wohlergehen für alle Menschen, die hier im Land leben – ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Glaubens und ihrer sozialen Lage. Sie in Ihrer Funktion spielen hierbei eine wichtige Rolle.

85.000 Kinder gehen heuer wieder in ganz Österreich zum Jahreswechsel Sternsingen. 30.000 Jugendliche und Erwachsene unterstützen sie dabei. Unser Ziel ist es, zu einer gerechten Welt beizutragen. Mit den Spenden der österreichischen Bevölkerung unterstützen wir Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika. 17,1 Millionen Euro wurden im Vorjahr gesammelt. Mit dieser gewaltigen Summe kann die Dreikönigsaktion, das Hilfswerk der Katholischen Jungschar, jährlich rund 500 Hilfsprojekte unterstützen.

Sternsingen bedeutet, die Botschaft vom Frieden für alle Menschen dieser Welt zu verbreiten. Die Sternsinger-Kinder  leisten einen wertvollen Beitrag zu einer gerechten Welt ohne Armut und Ausbeutung.

Sternsingen bedeutet auch die Botschaft von Jesus Christus zu hören. Er beruft uns immer wieder zur Umkehr damit wir seinem Vorbild, der ungeteilten Nächstenliebe, auch besonders für die Armen, Schwachen und Fremden, gerecht werden können. Eine engagierte Entwicklungspolitik ist hier ein wertvoller Baustein, ebenso wie ein solidarischer Sozialstaat, der soziale Risiken nicht privatisiert (Sozialwort)1). Nur wenn wir allen Menschen auf Augenhöhe begegnen, können wir gemeinsam eine friedlichere Welt den nächsten Generationen hinterlassen.

Wir hoffen, dass in diesem Sinne ein Dialog möglich ist und wünschen ein gutes neues Jahr.

Christina Pfister – Vorsitzende der Kath. Jungschar Österreich
Sigrid Kickingereder – Bundesgeschäftsführerin der Kath. Jungschar Österreich
Jakob Wieser – Geschäftsführer der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Kath. Jungschar

1) je nach Adressat/in wurde dieser Punkt angepasst, zum Beispiel:

  • Für eine österreichische Entwicklungszusammenarbeit, die Armutsbekämpfung als oberste Priorität verfolgt.
  • Für faire Wirtschaftspolitik und Handelsabkommen mit den Länden des globalen Südens.
  • Insgesamt hat sich ja die internationale Staatengemeinschaft, und damit auch Österreich, mit den „Zielen für nachhaltige Entwicklung“ viel Positives vorgenommen. Es erscheint uns unabdingbar, eine konsequente Strategie zur Umsetzung der Sustainable Development Goals zu verfolgen.

Dreikönigsaktion
Hilfswerk der Katholischen Jungschar
Wilhelminenstraße 91/II f
1160 Wien
http://www.dka.at