Redaktion

Traude Novy: Leistung muss sich lohnen

In einem bin ich ganz der Meinung der neuen österreichischen Bundesregierung – Leistung muss sich lohnen. Worin allerdings diese Leistung besteht und wer sie erbringt, da geht unsere Sicht, so fürchte ich, allerdings wieder auseinander.

Als Leistung sehe ich alles das, was zu einem guten Leben für alle Menschen beiträgt. Jene laut Christian Konrad 500.000 Menschen, die sich in unserem Land ehrenamtlich bei der Integration von Flüchtlingen und MigrantInnen engagieren, leisten meiner Meinung nach einen unbezahlbaren Beitrag zu einem friedlichen Miteinander in unserer Gesellschaft. Sie fangen Defizite des Staates im Bereich Integration und Bildung auf, sind sinnstiftend für viele entwurzelte und traumatisierte Menschen und stellen der Gesellschaft unbezahlt qualitätsvolles „Humankapital“ (wie das im neoliberalen Neusprech heißt) zur Verfügung. Belohnt wird diese Leistung allerdings oft mit der Verhöhnung als „Gutmenschen“, durch keinerlei Unterstützung durch öffentliche Stellen und der systematischen Abwertung dieser Tätigkeiten.

Altersbedingt kenne ich viele Frauen, die – selbst gebrechlich geworden, ihre an Demenz und sonstigen Krankheiten leidenden Männer mit großer Selbstverständlichkeit betreuen und pflegen – diese unbezahlten 24 Stunden-Kräfte arbeiten für die Öffentlichkeit unsichtbar und sorgen mit ihrer Tätigkeit dafür, dass unser Sozialstaat noch halbwegs funktioniert. Ähnlich ist es in Familien in denen Mitglieder mit Behinderungen leben. Die Belastung ist oft unvorstellbar. Nur einmal im Jahr werden sie durch die weihnachtliche Spendenaktion ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Auch hier sind es vor allem Frauen, die dieses fragile System stützen.

Es ließe sich noch vieles anführen, wo der Begriff der Leistung und die finanzielle Entlohnung dafür, und nur das versteht ja unsere Bundesregierung als Entgelt, auseinander klaffen – von der Arbeit im Sozialbereich, in der Primärbildung und in allem, was mit Fürsorge und Versorgung zusammenhängt.

Aber abgesehen vom sozialen Sektor gibt es auch in der For Profit-Wirtschaft deutliche Diskrepanzen. Weshalb verdienen (selbst)ausgebeutete Ein-Personen-Unternehmungen so viel weniger als jene Menschen, die nichts anderes tun, als in sekundenbruchteilen Aktien zu kaufen und zu verkaufen und damit eigentlich nur einen Beitrag zur Instabilität unseres Wirtschaftssystems leisten? In den Augen unserer Bundesregierung zählen auch jene Personen zu den Leistungsträgern.

Es ist z.B. für mich nicht einsichtig, dass mit der Wohnungsnot in unserer Stadt lukrative Geschäfte gemacht werden und dass eine Unzahl von gut bezahlten Beschäftigten in großen Betrieben ihr beträchtliches Hirnschmalz nur dazu verwenden, die Steuerleistung großer Unternehmen durch Agieren am Rande der Legalität  so zu minimieren, dass sie damit den Sozialstaat gefährden. Die Leistung für die Allgemeinheit all jener Betriebe ist ebenfalls zu hinterfragen, die ihre Gewinne zulasten der Umwelt, des Klimas und der Ausbeutung von Menschen in anderen Erdteilen machen.

VertreterInnen der For Profit Wirtschaft werden mir da jetzt entgegenhalten, dass es eben überall und auch am Arbeitsmarkt um Angebot und Nachfrage geht. Ganz abgesehen davon, dass auch das nicht stimmt, weil auf Grund des geringen Angebots und des großen Bedarfs im Pflegebereich, die Entlohnung dennoch nicht wesentlich verbessert wurde, so ist doch festzuhalten, dass der Markt eben nicht alles regelt. Es ist eine politische Aufgabe zu definieren, welche Leistungen gebraucht und erwünscht sind, um das gute Leben aller zu ermöglichen, was diese Leistungen einer Gesellschaft wert sind und wer dafür auch zu bezahlen hat.

Verwunderlich ist für mich aber in diesem Zusammenhang schon auch die ablehnende Einstellung der „Leistung muss sich lohnen“ Regierung  zu Erbschafts- und Vermögenssteuer. Diese Steuern zielen eben gerade darauf ab, leistungsfreies Einkommen zu besteuern – denn mir kann niemand erklären, dass es eine Leistung wäre, aus der „richtigen“ Gebärmutter geschlüpft zu sein.

Kann es sein, dass viele in unserem Land einem falschen Leistungsbegriff anhängen? Wäre es nicht sinnvoll all das als Leistung wahrzunehmen, was ein gutes Miteinander in der Gesellschaft fördert und in Gewinnmaximierung zulasten anderer Bevölkerungsteile das zu sehen, was es ist, nämlich Sozialschmarotzertum und Durchschummelei? Wenn also unsere Regierung als Ziel das gute Leben aller hat und sich nicht nur an den Bedürfnissen jener orientiert, die in unserer unsicheren Zeit doch ziemlich abgesichert leben, dann müsste sie zuallererst einmal ihren Leistungsbegriff einer humanen zukunftsorientierten Gesellschaft anpassen.

Traude Novy, Bloggerin

Salzburg, 4. April, 19 Uhr: Asyl, Christentum und Menschlichkeit

Christlich? Geht anders.
Asyl, Christentum und Menschlichkeit

Mittwoch, 4. April 2018, 19 Uhr
Ort: „Markussaal“ in der Gstättengasse 16

„Sich in die Politik einzubringen ist für einen Christen ein Muss. Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl.“ (Papst Franziskus)

Es ist kälter geworden in Österreich: Fast täglich berichten die Medien über Abschiebungen von gut integrierten Flüchtlingen, Flüchtlingsfamilien kommen in Schubhaft, die zahlreichen engagierten FlüchtlingshelferInnen sind verzweifelt. Statt Solidarität und Menschlichkeit treten Angstmacherei und Gnadenlosigkeit in den Vordergrund: Der solidarische Gedanke eines guten Miteinanders tritt zu oft in den Hintergrund: Es gibt zu viele Fälle, wo Gemeinden (Bürgermeister, Gemeinderat, Pfarrer, Pfarrgemeinderäte, Lehrer und Wirtschaftstreibende) hervorragende Integrationsarbeit geleistet haben und gut in die Gesellschaft integrierte Asylwerber über Nacht in Krisenländer und Kriegsgebiete abgeschoben werden.

Wer Ängste schürt und Menschen gegeneinander ausspielt, zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden. Als engagierte BürgerInnen ist es unsere Pflicht, für mehr soziale Gerechtigkeit einzutreten und auf der Seite der Schwächeren zu stehen.

Podiumsgespräch mit 

Dechant Mag. Alois Dürlinger, Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese Salzburg
Pfr.in Dr.in Maria Katharina Moser, design. Direktorin der Diakonie Österreich

Moderation: Elfi Geiblinger

(Veranstalter: Grüner LT-Klub, in Kooperation mit der Initiative “Christlich geht anders. Solidarische Antworten auf die soziale Frage” und der „Plattform für Menschenrechte“)

Traude Novy: Mythos Nulldefizit

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Ein wenig verblüfft war ich schon, als sich am Abend des Internationalen Frauentags Kardinal Schönborn in den Abendnachrichten zu Wort meldete.  Zum Abschluss der Bischofskonferenz ausgerechnet aus Sarajewo sprach er in dieser Funktion  nicht etwa die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern an – was an diesem Tag ja Hauptthema der Medien war, er sprach auch nicht vom zunehmenden Auseinanderklaffen der Einkommen und Vermögen, sondern sprach davon, wie sehr die Staatsschulden die Zukunft unserer Kinder gefährden.

Bei dieser Gelegenheit machte er noch einen Sidestep in das Jahr 1970, wo Bundeskanzler Klaus ein konsolidiertes Budget an seinen Nachfolger Kreisky übergeben hätte und dieser dann durch ausuferndes Schuldenmachen das österreichische Budget bis in unsere Tage belastet. In meinen Augen ist das ein unhinterfragter Mythos. Gerade am Internationalen Frauentag verbinde ich aber mit dem Jahr 1970 nicht das konsolidierte Budget, sondern dass es damals ein patriarchales Familienmodell gab, in dem die Frauen ihren Männern in fast allen Belangen untergeordnet waren, ohne ihre Erlaubnis weder außerhäuslich arbeiten durften, noch an den Entscheidungen die Kinder betreffend beteiligt waren.

Verantwortungsvolles Schuldenmachen ist auch Investition für die nächste Generation

Es ist unbestritten, dass sich die Regierungsverantwortlichen bewusst sein müssen, mit dem Geld der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Politik und Wirtschaft zu gestalten und ein sparsamer und verantwortungsvoller Umgang mit öffentlichen Mitteln zum Berufsethos eines jeden Politikers und auch der wenigen Politikerinnen gehören muss. Aber Wirtschaftspolitik ist um einiges komplizierter als die Rolle der von Angela Merkel immer wieder ins Treffen geführten schwäbischen Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt. Obwohl nicht einmal das stimmt, denn jeder Haushalt, der in ein Eigenheim investiert, macht langfristige Schulden, die das Jahreseinkommen zumeist bei weitem übersteigen – und das ist durchaus vernünftig und in keiner Weise verantwortungslos.

Beim Schuldenmachen kommt es immer darauf an, wofür und wie nachhaltig wirksam man sich verschuldet. Investitionen zur Ankurbelung der Wirtschaft,  ins Bildungswesen, in die Infrastruktur oder zur Abfederung von Wirtschaftskrisen, wie wir es 2008 und 2009 erlebt haben, sind nicht nur sinnvoll, sondern für eine gute Zukunft der nächsten Generation auch dringend notwendig. Das haben gerade die Jahre nach 1970 deutlich bewiesen, in denen Österreich zu einem der wohlhabendsten Länder in Europa wurde.  Die derzeit tatsächlich hohen Staatsschulden entstanden aber erst nach 2008 durch die Rettung der Banken und die sinnvollen Programme zur Ankurbelung der darniederliegenden Konjunktur. Dass das Weltwirtschaftssystem damals tatsächlich vor dem Abgrund stand, haben die meisten bereits wieder vergessen. Diese Schulden innerhalb weniger Jahre reduzieren zu wollen, kann nur gelingen, wenn massiv ins Sozialbudget eingegriffen wird, da ja die Regierung gleichzeitig viele Pläne zur Reduzierung von Steuern umsetzen will.

Schulden reduzieren durch Sparen im Sozialbereich!?

Ich erlebe eben, wie der junge Afghane, der bei uns wohnt seit Monaten keinen Kurs bekommt, um einen Hauptschulabschluss zu erlangen, weil es eben viel zu wenige Kurse gibt. Es fehlt ihm daher die Voraussetzung für eine Berufsausbildung nach der er sich so sehr sehnt. Da wird aus kleinlicher Sparsamkeit Volksvermögen und die Zukunft junger Menschen verschleudert. Denn eine gute Berufsausbildung ist der wesentliche sichere Garant zur Integration. Perspektivlosigkeit  von jungen Menschen heute, wird in Zukunft sowohl unser Sozialbudget als auch unser Sicherheitsbudget massiv belasten und das Leben in unserem Land für alle weniger angenehm machen.

0-Defizit als Strategie für Umbau des Sozialstaates

Ein 0-Defizit als Staatsziel scheint aber diesmal nicht wie zu Karl Heinz Grassers Zeiten ein Marketing Gag zu sein, sondern eher eine Strategie, um den Umbau des Sozialstaats voranzutreiben. Derzeit haben wir in Österreich ein Wirtschaftswachstum und weniger Arbeitslose, außerdem ist das Zinsniveau seit vielen Jahren extrem niedrig. Das sind alles Voraussetzungen, dass sich bei verantwortungsvoller Gebarung das Defizit automatisch reduzieren wird – und das ist auch gut so. Die Bundesregierung allerdings versucht die Quadratur des Kreises, sie will Steuern senken,  Unternehmen entlasten, mehr für Bildung und Polizei ausgeben und gleichzeitig ein 0-Defizit einfahren. Das geht nur zulasten all jener, die keine Lobby außer der Caritas haben – Ansätze in diese Richtung gibt es ja schon und nach den Landtagswahlen in Salzburg wird sich da noch einiges zeigen.

Eine Regierung, die Erbschaftssteuern, Vermögenssteuern und das Andenken einer Wertschöpfungsabgabe rigoros ablehnt, kann gar nichts anderes tun, als zu Lasten des Sozialbudgets in kürzester Zeit ein 0-Defizit zu erreichen, denn eine Verwaltungsreform, so diese die erstarkten Landeskaiser denn zulassen,  dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bis sie wirksam wird.

Was den Herrn Kardinal motiviert haben könnte, sich in dieser schwierigen Materie populistisch zu Wort zu melden, kann man nur vermuten – allerdings geht man wahrscheinlich nicht falsch in der Annahme, dass das Lobbying, das die neuen jungen Männer in der Regierung so gut beherrschen, auch bei ihm nicht ohne Wirkung geblieben ist.

Traude Novy, Bloggerin

Sebastian Pittl: Für Christus, Volk und Vaterland?

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Die politische Theologie neurechter Bewegungen

Sebastian Pittl skizziert geschichtliche und ideologische Hintergründe und Wurzeln von aktuellen rechtsextremen Gruppierungen und Bewegungen. In der französischen Nouvelle Droite rund um ihre Gallionsfigur Alain de Benoist (*1943) findet er Anknüpfungspunkte, aber auch Kritikmöglichkeiten. Und er blickt auf die Querverbindungen zum Christentum.

Das Wiedererstarken nationalistischer und rechtsextremer Gruppierungen und Tendenzen stellt zweifellos eine der wichtigsten Herausforderungen gegenwärtiger europäischer Gesellschaften dar. Von Russland über Ungarn bis hin zur AfD oder dem Front national verbindet sich diese Entwicklung dabei mit dem Rückgriff auf christliche Motive. Dies ist offensichtlich in der Allianz zwischen Wladimir Putin und hohen Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche, in der Präambel der ungarischen Verfassung, die mit Bezug auf den Heiligen Stephan Ungarn als christliche Nation inszeniert, aber auch in den Bezügen auf die „abendländisch-christliche Kultur“ der AfD oder der engen Verflechtung von katholischen Traditionalisten im Umkreis der Piusbruderschaft mit dem Front National Marine Le Pens.

Signifikante ideologische Veränderungen

Die neurechten Bewegungen in Europa sind ein äußerst heterogenes und oft sogar widersprüchliches Phänomen. Dennoch gibt es über die verschiedenen ideologischen Grenzen hinweg einen Austausch von Ideen und Begriffen sowie länderübergreifende Allianzen. Kritiker*innen dieser Bewegungen (auch aus der Theologie) übersehen häufig die signifikanten ideologischen Veränderungen, die innerhalb dieses Milieus während der letzten Jahrzehnte zu beobachten sind. Dadurch werden gewisse Stereotype von den Rechten reproduziert, die eine konstruktive Auseinandersetzung und effektive Kritik erschweren.

Auf intellektueller Ebene hatte die französische Nouvelle Droite rund um ihre Gallionsfigur Alain de Benoist (*1943) in den letzten Jahrzehnten eine Vorreiterrolle. Ihre Strahlkraft reicht dabei von der Lega Nord in Italien über Vlaams Belang in Belgien bis hin zum russischen Vordenker des neuen Konservativismus Aleksandr Dugin, dem ein entscheidender Einfluss auf Zirkel rund um Wladimir Putin nachgesagt wird.[1]

Pioniere für einen Weg jenseits der drei „Totalitarismen“

Die Nouvelle Droite hat ihre Wurzeln in der von Benoist 1968 mitgegründeten GRECE (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne), einem neorechten Thinktank. Benoist und der Nouvelle Droite gelang es durch rhetorische Distanzierung von der „alten Rechten“ sowie durch Verwendung einer politisch korrekten, d. h. antirassistischen, antifaschistischen und pro-demokratischen Sprache, die Rechte aus ihrer Isolation herauszuführen und gesellschaftlich wieder salonfähig zu machen. Benoist und seine Weggefährten knüpfen dabei an Denker der sogenannten „Konservativen Revolution“ (Armin Mohler) wie Carl Schmitt, Ernst Jünger oder Julius Evola an, in denen sie Pioniere für einen Weg jenseits der drei „Totalitarismen“: Faschismus, Sozialismus und egalitären Liberalismus erblicken.

Starke medienwirksame Bilder, die sich dem kollektiven Gedächtnis einprägen sollen

Erstaunlich ist, wie Benoist sich auch zahlreiche „linke“ Theoretiker*innen zu eigen macht. So knüpft Benoist etwa an Antonio Gramsci, den italienischen Marxisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, um die entscheidende Bedeutung des Kampfes um kulturelle Hegemonie, d. h. um die Begriffe und Bilder, die den öffentlichen Diskurs und Vorstellungs- und Wertewelt der Individuen prägen, zu betonen. Wirkmächtig aufgegriffen wird dies derzeit von rechtsextremen Jugendbewegungen wie der Casa Pound in Italien oder der „Identitären Bewegung“ in Österreich und Deutschland.[2] Diese von manchen auch als „rechte Hippster-Bewegung“ charakterisierte Gruppe versucht über professionelle Medienarbeit im Internet sowie durch Protestformen, wie sie traditioneller Weise eher von linken Bewegungen bekannt sind, möglichst große Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ziel ist es, starke medienwirksame Bilder zu erzeugen, die sich dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft einprägen sollen. Zum Repertoire dieser Form der „Metapolitik“ gehören effektvolle Störaktionen von Veranstaltungen (Vorträge, Theateraufführungen) oder die Besetzung von Hörsälen und Parteizentralen, aber auch Musikvideos und „Theoriearbeit“.

Begriff „Ethnopluralismus“ anstelle der Rassenideologie der Alten Rechten

Die „Identitären“ berufen sich mit Benoist auf „Ethnopluralismus“. Der Begriff tritt bei Benoist an die Stelle der Rassenideologie der Alten Rechten. Auf dem Globus gibt es demnach unterschiedliche ethnokulturelle Gruppen mit je eigener Identität und einem je eigenen Wertesystem. Keine der Kulturen sei dabei der anderen über- oder untergeordnet, zerstörerisch sei jedoch die Vermischung dieser Kulturen, da sie die Menschen ihrer konkreten, gewachsenen Identität berauben würde. Migration und die durch die Vorherrschaft des derzeitigen kapitalistischen Systems erzwungene Uniformisierung der Menschheit sind daher entschieden abzulehnen. Die Ideologie der „Egalität“, d. h. der abstrakten Gleichheit aller Menschen ungeachtet ihrer Kultur und Geschichte, wie sie sich z. B. in den Menschenrechten spiegle, dient für Benoist nur der Legitimation des liberal-kapitalistischen Systems. Sie ist Ausdruck derselben Nivellierung von Differenz. Diese zu verteidigen, so das postmodern inspirierte Mantra Benoists, sei die Kernaufgabe der neuen Rechten.

Interessanterweise verabschiedet sich die Nouvelle Droite in den letzten Jahren auch vom Nationalismus. In einem Manifest, das Benoist mit Charles Champetier um die Jahrtausendwende verfasste[3], heißt es, die Nation sei einerseits zu groß, um den alltäglichen Herausforderungen der Menschen gerecht zu werden, andererseits zu klein, um globalen Herausforderungen gewachsen zu sein. An Stelle der Nation sollte ein starkes Europa treten mit einer lebendigen Pluralität regionaler, in sich jedoch möglichst homogener Identitäten.

Zu all dem gesellt sich eine entschieden pro-demokratische Rhetorik, allerdings nicht im Sinne der „liberalen“, repräsentativen Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung und dem Parteienapparat, sondern als direkte, plebiszitäre Demokratie. Carl Schmitt scheint Pate zu stehen, wenn darauf hingewiesen wird, dass eine solche Demokratie nur in relativ homogenen Gesellschaften funktionieren könne. Dies ist der ideologische Hintergrund, vor dem etwa auch die Forderungen der FPÖ oder AfD nach mehr direkter Demokratie und einer stärkeren Berücksichtigung des „Volkes“ zu verstehen sind.[4]

Faktor „Religion“ kommt in dieser ideologischen Atmosphäre eine entscheidende Bedeutung zu

Aus theologischer Sicht gilt es auf die entscheidende Bedeutung zu verweisen, die dem Faktor „Religion“ in dieser ideologischen Atmosphäre zukommt. Aleksandr Dugin, dessen Rezeption innerhalb der europäischen Rechten inzwischen mit der von Benoist vergleichbar ist, knüpft stark an christliche, und hierbei insbesondere eschatologische Motive an.[5] Für Benoist ist die politische Theologie Carl Schmitts ein entscheidender Bezugspunkt. Hinsichtlich des Christentums scheint die Diagnose Benoists, der auch selber Theologie studierte, jedoch zutreffender als die von Schmitt zu sein. Benoist macht sich die Säkularisierungsthese des evangelischen Theologen Gogarten zu eigen, um zu betonen, dass das jüdisch-christliche Erbe sowohl die Entzauberung der Welt in Gang gesetzt als auch jenes Egalitätsdenken vorbereitet habe, das in den Menschenrechte seinen Ausdruck finde. Anders als Gogarten sieht Benoist hierin jedoch nicht die Ermöglichung einer legitimen Autonomie der Welt sowie die Anerkennung einer irreduziblen Würde des Einzelnen, sondern den direkten Weg in einen zerstörerischen Nihilismus, in dem jedes Bewusstsein für Differenz und Transzendenz verschwunden sei.

Benoist setzt auf ein erneuertes Heidentum

Benoist setzt im Unterschied zu den vielen neurechten Bewegungen, die sich von ihm inspiriert zeigen, zur Rettung der europäischen Identität daher nicht auf das Christentum, sondern – in diesem Punkt den Nationalsozialismus ähnlicher als Schmitt – auf ein erneuertes Heidentum. Seine Gegenüberstellung von Heidentum und Christentum zeigt sich dabei von Nietzsche inspiriert:  „Wir möchten dem Gesetz den Glauben gegenüberstellen, dem Logos den Mythos, der Schuld des Geschöpfs die Unschuld des Werdens, der Anpreisung von Dienst und Bescheidenheit die Legitimität des Willens zur Macht, der Abhängigkeit die Autonomie des Menschen. Wir schätzen das Verlangen höher als die Vernunft, […] das Bild höher als den Begriff, die Heimat höher als das Exil, den Willen zur Geschichte höher als das Ende der Geschichte und den Willen zur Veränderung, der „Ja“ zur Welt sagt, höher als die Negativität und die Verweigerung.“[6]

Man mag es Benoist zu Gute halten, dass er selbst um die Konstruiertheit seines Neuheidentums zu wissen scheint. An anderer Stelle des eben zitierten Buches schreibt er über die ursprüngliche Wahl zwischen jüdisch-christlichem Glauben und Heidentum: „[…] die ursprüngliche Entscheidung bleibt eine Frage der Wahl […], die niemals vollständig die Notwendigkeit ihrer eigenen Postulate beweisen kann. Nichts erspart uns, diese Wahl zu machen […] Die conditio humana zeigt sich im vollen Bewusstsein dieser Berufung. Subjektivität ist daher nichts, was sich verstecken müsste, weil sie subjektiv ist – eben hierin liegt ihre Stärke.“ Hier spricht sich offen aus, was im Kern der Identitätsbestimmungen neurechter Gruppen zu liegen scheint: radikale Subjektivität, ein „Ich bin ich“ bzw. „Wir sind wir“ wie es auch in der Selbstbezeichnung der „Identitären Bewegung“ klar hervortritt.

Gegenwärtige Identitätspolitik und Heilsgeschichte

Dass Benoist dem jüdisch-christlichen Erbe als Basis für eine neurechte Identitätspolitik zu Recht misstraut und in diesem Sinne wohl auch tiefer dringt als andere neurechte Gruppen und Parteien, zeigt sich, wenn man auf eine biblische Stelle blickt, die auf den ersten Blick strukturanalog zu diesem inhaltslosen „Ich bin ich“ zu sein scheint: die Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14. Gott offenbart sich Mose als „ähjä aschär ähjä“ – „Ich bin, der ich bin“ bzw. wohl noch treffender: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Der Kontext dieser Offenbarung verträgt sich jedoch schwerlich mit dem Wunsch nach „klaren und starken Identitäten“[7] der Neuen Rechten: Moses, ein Hebräer mit ägyptischem Namen, Migrant der zweiten Generation, der auch noch aus seinem zweiten Heimatland fliehen muss, weil er einen Sklavenaufseher erschlägt, ist sich selbst und seiner eigenen Herkunft zutiefst entfremdet, als er auf den brennenden Dornbusch trifft. Weder ganz Ägypter noch ganz Hebräer, ist er das, was man in postkolonialer Terminologie eine hybride Existenz nennen würde. Er heiratet, fern von seiner ersten und zweiten Heimat, die Tochter eines midianitischen Priesters und gibt seinem Sohn den bezeichnenden Namen Gershom (Ödgast), denn „ein Fremder bin ich in einem fremden Land geworden“ (Ex 2,22). Hier beginnt das befreiende, Sinn und Identität stiftende Handeln des „Ich werde sein, der ich sein werde“ an Israel. Was bedeutet es im Kontext gegenwärtiger Identitätspolitik, sich in diese Heilsgeschichte einzuschreiben?

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in feinschschwarz.net Theologisches Feuilleton, 12.7.2017

Sebastian Pittl
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt.

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Tamir Bar-On, „Intellectual Right-Wing Extremism – Alain de Benoist’s Mazeway Resynthesis since 2000“, in: Uwe Baceks/Patrick Moreau (Hgg.), The Extreme Right in Europe. Current Trends and Perspectives, Göttingen, 2012, 333–358.

[2] Vgl. Julian Bruhns/Kathrin Glösel/Natascha Strobl, Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster 2014.

[3] Alain de Benoist/Charles Champetier, Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000. Der Text ist online leicht zu finden.

[4] Vgl. die entsprechenden Wahlprogramme.

[5] Vgl. John Cody Mosbey, Political Theology. Aleksandr Dugin and the Fourth Poltical Theory. Working paper, 2017.

[6] Übersetzung aus dem Englischen nach dem online ebenfalls leicht auffindbaren Text von „On being a pagan“. Das Original wurde 1981 in Paris unter dem Titel „Comment peut-on être païen?“ veröffentlicht. Eine deutsche Version erschien unter dem Titel: „Heide sein zu einem neuen Anfang. Die europäische Glaubensperspektive“ (Tübingen 1982).

[7] Vgl. dazu ebenfalls das Manifest von Benoist und Champetier.

Traude Novy: Abgewirtschaftet versus sich in die Gestaltung unserer Welt einmischen

In meiner Kindheit meinte man, wenn man von „So einer Wirtschaft“ sprach, eine große häusliche Unordnung, in Bayern bezeichnet man mit dem Wort Wirtschaft noch immer ein gemütliches Wirtshaus – aber mit der Zeit haben wir uns daran gewöhnt, dass „Wirtschaft“ etwas ist, womit sich nur einige wenige „Eingeweihte“ befassen und was mit unserem ganz normalen Leben eigentlich nichts zu tun hat. „Werch ein Illtum“ würde Ernst Jandl sagen.

Der Staat schafft keine Beschäftigung?

Einige Ereignisse der letzten Wochen haben mir wieder deutlich gemacht, dass unser biblischer Anspruch auf Gerechtigkeit unmittelbar danach verlangt, uns intensiv mit Wirtschaft, ihren Ausdrucksformen und Auswirkungen intensiv zu beschäftigen. Denn eingeengtes ideologisches Denken verstellt den Blick auf die Wirklichkeit.

Da behauptet z.B. unsere Sozialministerin vor den Abgeordneten des Parlaments, dass staatliche Beschäftigungsprogramme Ausdruck anachronistischen kommunistischen Denkens wären, weil der Staat eben keine Beschäftigung schaffen könne.

Wie muss das auf Stadtplanerinnen, Bauarbeiter, Eisenbahner wirken, die öffentliche, mit Steuergeld finanzierte Infrastrukturprogramme umsetzen? Wie auf Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Ärztinnen und Krankenpfleger im öffentlichen Dienst? Wie auf alle Beamtinnen und Beamte, die unser im Großen und Ganzen doch gut funktionierendes Gemeinwesen verwalten? Sie alle sind von Investitionen der öffentlichen Hand abhängig, sie alle zahlen Steuern, investieren und konsumieren und tragen so zum erfolgreichen Wirtschaftsstandort Österreich bei.

Der Haushalt als Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft

Den Begriff Wirtschaft auf den schmalen Bereich der privaten For Profit Wirtschaft einzugrenzen, verfälscht das Bild, das eine erfolgreiche Volkswirtschaft abgibt. Ebenso wird im staatlichen Bereich, in dem großen Sektor der Non Profit Ökonomie gewirtschaftet, ja und der einzelne Haushalt, von dem das Wort Ökonomie ja abstammt, ist die Grundlage dafür, dass Wirtschaft insgesamt funktionieren kann. Nicht zu vergessen ist auch der zumeist unterbelichtete Teil der illegalen bis kriminellen Wirtschaft an den wir alle wissentlich oder unwissentlich immer wieder zumindest anstreifen.

Noch deutlicher wird es, wenn wir den Blick auf die sogenannte Care-Ökonomie richten, also jenen Teil der Wirtschaftsleistungen, die in hohem Maße unbezahlt und vorwiegend von Frauen erbracht wird.

Damit die For Profit Wirtschaft überhaupt funktionieren kann, braucht es als Voraussetzung die Fürsorge, Versorgung, Bildung, Reinigung und Pflege. Dieser Teil der Wirtschaft funktioniert aber nach völlig anderen Regeln als die sich immer wieder beschleunigende industrielle und digitale Wirtschaft. Diese Arbeit ist zumeist umso besser, je mehr Zeit dafür zur Verfügung steht. Hier geht es nicht um Konkurrenz sondern um eine gute Kooperation.

Kosten der Arbeit in der Realwirtschaft

Da Industrie- und digitale Arbeit immer billiger, weil rationalisierbar wird, steigen die Kosten der Arbeiten an und mit Menschen. Aber diese Arbeit macht unser Leben erst lebenswert. Denn wir Menschen sind nicht unabhängige Einzelwesen, sondern wir sind unser Leben lang voneinander abhängig. Das muss als Tatsache zur Kenntnis genommen werden. Deshalb sollte der Staat seine Steuern nicht vorwiegend aus der Besteuerung von Arbeit beziehen, sondern seine Einnahmen auf digitale und industrielle Wertschöpfung und Vermögen umlenken.

Solange die Care-Ökonomie aber nicht als wichtiger Teil der Wertschöpfung, sondern als Kostenfaktor gesehen wird, der vor allem das Sozialbudget belastet, wird es nicht zu einer gerechten Wertschätzung und Bezahlung dieser Arbeiten kommen und auch die gerechte Verteilung dieser Tätigkeiten zwischen Frauen und Männern bleibt Illusion.

Wirtschaft als Krypto-Illusion

Aber es tun sich in letzter Zeit noch andere Fallen auf. Jetzt wird nicht allein mehr von der „Finanzindustrie“ gesprochen, die ja, wie die Finanzkrise deutlich zeigte,  mit echter Industrie nichts gemein hat, sondern es werden auch Bitcoins „geschürft“, so als ginge es dabei um vorhandene Bodenschätze und nicht um nur in den Fantasien der handelnden Personen imaginierte Werte.

Die sprachliche Vortäuschung realer Werte soll Seriosität vermitteln. Aber hier ist nicht einmal das vorhanden, was Goldgräber immer schon motiviert hat, das Unmögliche zu wagen, nämlich wenigstens ein Stäubchen echte Grundlage.

Nachhaltige Wirtschaft nur durch verantwortliches Handeln

Am letzten Sonntagvormittag sprach der Filmemacher Werner Boote über seinen neuesten Film „Green lies“. Darin zeigt er auf, wie Konzerne auf das Bedürfnis der Kundinnen nach Nachhaltigkeit aufspringen, ohne eine echte Umkehr zu einer ökologisch verträglichen Produktion anzugehen. Die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch die Palmölproduktion ist da ein eindrucksvolles Beispiel. Die Perversität auch von solch gut gemeinten Sendungen zeigte sich daran, dass zwischendurch Werbung eben auch für Großkonzerne geschaltet wurde.

Aber Werner Boote hat schon recht, durch einen fairen und echt nachhaltigen Konsum allein werden wir die Industrie nicht zum Umdenken bringen, dazu ist das System zu mächtig und vernetzt, dafür braucht es ein Handeln der Politik mit Vorschriften und Regeln. Die werden aber ohne einen sich in Wahlergebnis niederschlagenden Druck aus der Bevölkerung nicht kommen.

Um ein gutes Leben aller Menschen anstreben zu können und zur Behütung der Schöpfung halte ich es als eine wichtige Christenpflicht, sich in die Gestaltung unserer Welt einzumischen. Grundvoraussetzung des Einsatzes für mehr Gerechtigkeit in unserem Land und weltweit ist es daher, sich mit den Fragen der Wirtschaft intensiver auseinanderzusetzen und den enggeführten Wirtschaftsbegriff der For Profit-Lobbyisten zu erweitern.

Traude Novy
Bloggerin

Die Entfremdung des Menschen: Die christlich-soziale Wurzel ist tot.

Am 22. Februar 2018 veranstaltete die Initiative „Christlich geht anders“ und der Kath. AkademikerInnenverband Wien im Otto-Maurer-Zentrum in Wien eine Podiumsdiskussion zum Thema „Solidarische Antworten auf die soziale Frage Welche Antworten gibt die neue Regierung darauf?“. Der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister diskutierte mit Wirtschaftskammer-Vertreter Rolf Gleißner über das neue Regierungsprogramm. Die Moderation führte ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner. 

Vorweg: Die Diskussion wurde sehr kontroversiell geführt und vom Publikum teilweise sehr emotional mitgetragen. In ihrer Einleitung wies Magdalena Holztrattner darauf hin, dass das Regierungsprogramm insgesamt 180 Seiten umfasse, darin seien ungefähr 25 Seiten dem Thema Fairness und Gerechtigkeit zugeordnet, und hier wieder vier Seiten dem Thema Soziales und Konsumentenschutz.

Gleißner: Regierung gibt richtige Antworten

Rolf Gleißner, stellvertretender Abteilungsleiter für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer Österreich, betonte, dass das neue Regierungsprogramm durchaus die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft gebe. „Im Vergleich mit anderen Ländern in Westeuropa steht Österreich sehr gut da“, sagte der Wirtschaftskammer-Vertreter, und nannte auch Beispiele: Die Einkommen seien gleichmäßig verteilt und hätten sich relativ stabil entwickelt; die absolute Armut habe sich seit 2008 fast halbiert, die Armutsgefährdung sei unterdurchschnittlich. Die Mindestsicherung sei auf einem wesentlich höheren Niveau als in Deutschland. Österreich könne einen lückenlosen Sozialstaat vorweisen. Doch: „Natürlich hat der Sozialstaat Schwächen und muss angepasst werden an die Zukunft“, so Gleißner. „Die Kehrseite ist natürlich, dass ein Sozialstaat auch teuer ist.“ Die Abgabenquote von rund 43 Prozent sei sehr hoch; die Hälfte der Staatseinnahmen gehe in das Sozialsystem. Die Österreicherinnen und Österreicher gingen auch relativ früh in Pension, das sei „eine Schwäche des Sozialstaats“. Gleißner: „Wir haben einen relativ hoher Anteil von Beziehern von Mindestsicherung, vor allem in Wien. Und wir haben eine extrem hohe Regelungsdichte in Österreich.“ Das Regierungsprogramm gebe hier die richtigen Antworten. „Das fängt an beim Thema Arbeitszeit, wo wir als Wirtschaftskammer uns mehr Flexibilität wünschen. Es gibt Handlungsbedarf im Bereich Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestsicherung – auch dort muss man einige Anpassungen vornehmen. Wir wollen nicht den Sozialstaat in Frage stellen, aber man darf nicht jedes Detail für sakrosankt erklären.“

Schulmeister: Im Neoliberalismus verliert Solidarität ihren Wert

Anderer Meinung ist hingen Stephan Schulmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und Mitinitiator der Initiative „Christlich geht anders.“ Er sieht, dass sich seit den 70er-Jahren die Ideologie des Neoliberalismus immer mehr durchgesetzt hat. Diese Ideologie „geht von der Vorstellung aus, der Mensch ist in seinem Wesen nur ein Individuum, das eigennützig und rational ist“, so der Wirtschaftsforscher. Dieses Menschenbild wirke sich jetzt bis ins kleinste Detail in die aktuelle Politik und damit auch auf das aktuelle Regierungsprogramm aus. Schulmeister im O-Ton: „Wenn der Mensch nur ein eigennütziges Wesen ist, dann hat Solidarität keinen Wert mehr.“

Die Prinzipien des Neoliberalismus und der katholische Soziallehre stünden in diametralen Gegensatz. Die Krise Europas, die sich nach Schulmeisters Ansicht noch vertiefen wird, „liegt in der Entfremdung der Menschen von dem, was eigentlich unsere Grundwerte und unsere über Jahrhunderte gewachsene Lebensgewohnheiten sind“. Doch Europa schwächt die Sozialstaatlichkeit Schritt für Schritt – und das seit 30 Jahren. „Dieses Regierungsprogramm unterstütze diese Tendenz vehement“, weist Schulmeister darauf hin. Und weiter: „Ich habe mir die inhaltlichen Punkte angesehen wie Kürzung des Arbeitslosengeldes, der Mindestsicherung insbesondere für Flüchtlinge, ich sage, das ist ein richtig neoliberalistisches Programm, das nachmacht, was in anderen Ländern schon vorexerziert wurde.“ Das Bedrückendste für ihn aber sei, dass dieses Programm federführend von einer Partei ausformuliert und durchgesetzt wurde, die über Jahrzehnte eine christlich-soziale Wurzel hatte. Schulmeister: „Diese Wurzel ist tot.“

Auch die Zukunftsaussichten wurden von den beiden Experten unterschiedlich bewertet; während Stephan Schulmeister eine „Vertiefung der Finanzkrise“ befürchtet, hält Rolf Gleißner eine „Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung“ für möglich.

„Christlich geht anders“ ist ein breites Bündnis von sozial engagierten ChristInnen, kirchlichen (Laien-)Organisationen (darunter die Ordensgemeinschaften Österreich) und AmtsträgerInnen sowie Hilfsorganisationen der Zivilgesellschaft.

rsonnleitner

Von den 120 BesucherInnen kamen Rückfragen auf hohem wirtschafts- und sozialpolitischem Niveau. Das zentrale Interesse betraf die Arbeitsmarktpolitik. Finanzmarktpolitik und Europa waren ebenso Aspekte in der Diskussion. Das Publikum brachte zusätzlich Themen zur Sprache, wie Chancen am Arbeitsmarkt für ältere Menschen, menschenwürdiges Dasein, Umverteilung von unten nach oben, menschenverachtender Umgang mit Arbeitslosen und Flüchtlingen, etc. Von den Experten am Podium wurden auch sehr unterschiedliche Zukunftsbilder gezeichnet, über mögliche/wahrscheinliche kommende Krisen (Vertiefung der Finanzkrise) von Schulmeister, wohingegen Gleissner zuversichtlich eine Entwicklung in Richtung Vollbeschäftigung für möglich hält.

Begrüßung: Gabriele Kienesberger (Kath. Arbeitnehmer/innenbewegung Wien, KAB)
Moderation: Magdalena Holztrattner (Kath. Sozialakademie Österreich, ksoe)

Hans Peter Hurka: Christlich geht anders, weil …

Anerkennung und Achtung der gleichen Würde aller Menschen, Hilfe denen, die Hilfe brauchen zu gewähren, ehrlich und offen allen Menschen zu begegnen, gerechter Lohn und faire Preise sowie ein gemeinschaftsfördernder Umgang mit Eigentum gehören zum Kern der christlichen Botschaft.

Dementsprechend verhindert eine christlich geprägte Gemeinschaft Entsolidarisierung, Ausbeutung von Mensch und Natur, Diskriminierung oder Leistungsprämissen, die menschliches Leben schädigen und Hilfe erst nach vorangehender Leistung gewähren. Anhäufen von Eigentum für ausschließlich eigene Interessen, Sparen auf Kosten anderer stehen dem Prinzip des Teilens im Wege. Wer diejenigen abweist die hilfesuchend bitten schädigt nicht nur diese, sondern die ganze Gemeinschaft.

Glück und Heil sind nur im wohlwollenden vertrauensvollen Miteinander und nicht im übertrumpfenden, ruinösen Wettbewerb zu erreichen.

So gut wie alle Religionen kennen die „goldene Regel“. In der Feldrede schreibt Lukas: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“ (Lk 6,31) Auch im Islam gilt: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“

Es ist jene Form der Wahrheit, aus der Gottes Weisheit und Wille spricht. „Leben und leben lassen“ ist dafür nicht nur eine kurz gefasste Volksweisheit, sondern hat sich auch als gute, praktische Richtschnur bewährt.

Trotzdem erleben wir: Nachbarn kennen einander nicht, geflüchtete Menschen werden als Bedrohung erlebt, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes nimmt zu. Der Druck am Arbeitsplatz steigt, die Kosten für den Lebensunterhalt oder für die eigene Krankheitsbehandlungen ebenso. Reaktionen darauf sind, dass viele das zusammenhalten versuchen was sie haben, um für Veränderungen gewappnet zu sein. Solche Individuallösungen haben aber wenig Chancen die befürchtete Not abzuwenden.

„Christlich geht anders“! Wer dem Beispiel Jesu folgt ist offen für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, sozialer Stellung oder Religionszugehörigkeit. Wer mehr hat gibt dem der es braucht, individuell und gesellschaftlich. Neiddebatten, unbedingtes Streben nach dem eigenen Vorteil, Ausnützen der Allgemeinheit, gegenseitiges Aufrechnen, herabwürdigende Äußerungen oder Handlungen etc. dürfen keinen Platz finden. Dafür sind alle Christinnen und Christen in unserem Land verantwortlich.

Niemand hat das Recht, einem anderen Menschen Lebenschancen vorzuenthalten. Was ich bin, habe oder kann ist nicht nur meine eigene Leistung, sondern auch das Ergebnis aus dem Wohlwollen meiner Mitmenschen. Deshalb habe ich es so einzusetzen, damit andere Menschen in Gerechtigkeit, Frieden und mit Freude leben können. Gerade angesichts der neuen Bundesregierung und in Zeiten, wo viele sich selbst oder „ihr“ Land zuerst gereiht sehen wollen ist mit großer Aufmerksamkeit darauf zu achten, dass unsere Demokratie weiterentwickelt und nicht ausgehöhlt wird, Sozialleistungen den Schwächeren ausreichend zur Verfügung gestellt und nicht nur generell gekürzt werden, und die Wohlhabenderen mit jenen teilen, die zu wenig haben um menschenwürdig mit uns zu leben.

Jeder Einzelne und jede Gemeinschaft, sei sie kirchlich, kommunal, regional, bundesweit oder weltweit kann nur gewinnen, wenn sie sich daran orientieren. Rezepte gibt es, umgesetzt müssen sie werden!

Hans Peter Hurka
Sprecher des Netzwerks: zeitgemäß glauben
www.zeitgemaess-glauben.at

Christoph Konrath: Das Regierungsprogramm und die Bundesverfassung

Hindernisse und Umwege

Im Wahlkampf 2017 und während der Regierungsverhandlungen wurde immer wieder die Befürchtung geäußert, dass eine ÖVP-FPÖ-Koalition einen vollständigen Umbau der Staatsorganisation durchführen werde. Am Beispiel Ungarns oder Polens wurde auf die Gefahren von maßgeblichen Verfassungsänderungen hingewiesen. Solche Änderungen haben in den letzten Jahren tatsächlich in Ungarn stattgefunden. In Polen werden sie vorbereitet, aber es ist unklar, ob es derzeit die erforderlichen Mehrheiten dafür geben würde.

Im Programm der neuen Bundesregierung werden viele Maßnahmen angeführt, aber die Vorschläge für Änderungen der Bundesverfassung (und nur mit solchen könnte eine grundlegende Veränderung der Staatsorganisation vorgenommen werden) beschränken sich auf einige eher unzusammenhängende und nicht näher ausgeführte Punkte unter der Überschrift „Moderner Verfassungsstaat“ (S. 21). Diese reichen von der Schuldenbremse in der Verfassung, über die Evaluierung der parlamentarischen Abläufe, über das Recht auf Bargeld, ein Staatsziel Wirtschaftswachstum bis zur Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung. Das sind alles Themen, die auf Vorschläge der nunmehrigen Koalitionspartner aus den letzten Jahren zurückgehen. Zu manchem finden sich da nähere Ausführungen, aber insgesamt bleibt es sehr offen.

Weitere Maßnahmen, die Änderung der Bundesverfassung voraussetzen, betreffen die Verbesserung und Neuordnung der Kompetenzverteilung (also der Zuständigkeiten zur Gesetzgebung in bestimmten Fragen) zwischen Bund und Ländern. Auch das ist nicht weiter neu und findet sich praktisch (freilich mit unterschiedlichen Schwerpunkten) in allen Regierungsprogrammen seit den 1990er-Jahren.

Was aber auffällt ist, wie über die Bundesverfassung selbst im Regierungsprogramm gesprochen wird.

Im Vorwort wird das „Fundament“ genannt, auf dem die neue Regierung tätig werden will: „[Es] setzt sich zusammen aus der österreichischen Verfassung, der immerwährenden Neutralität, den Grundprinzipien der Europäischen Union, aber auch den Grund- und Menschenrechten, den bürgerlichen Freiheiten sowie den Rechten von Minderheiten.“

Diese Aussage klingt selbstverständlich. Auffallend ist, dass hier und an vielen anderen Stellen des Regierungsprogramms allgemein von der österreichischen „Verfassung“ die Rede ist. Damit ist wohl die Bundesverfassung gemeint, aber nur einmal im gesamten Regierungsprogramm und zwar im Kapitel über Kultur wird sie ausdrücklich so bezeichnet. Das mag pedantisch klingen, aber es kann auch ein Hinweis darauf sein, wie unbestimmt die Vorstellungen von Politikerinnen, Politikern und ihren Stäben im Hinblick auf Verfassung und Verfassungsrecht in Österreich sind. Das zeigt sich auch darin, dass neben der „Verfassung“ die Neutralität, Grundprinzipien der EU, Grund- und Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Rechte der Minderheiten genannt werden. Das sind jedoch alles Regelungen, die zum Kernbestand von Verfassungsrecht im Allgemeinen und in Österreich ganz besonders zählen.

Mehr über die „Verfassung“ kommt erst im Kapitel über Integration. Dort heißt es: „Von jenen Personen, die rechtmäßig und dauerhaft in unserem Land leben, wird eingefordert, dass sie sich aktiv um ihre Integration in die Gesellschaft und ihr Fortkommen bemühen sowie unsere verfassungsmäßig verankerten Werte hochhalten. Nur auf dem Fundament dieser gemeinsamen Wertebasis kann ein friedliches Zusammenleben funktionieren. Erst das Leben dieser Werte ermöglicht eine erfolgreiche Integration in Österreich.“ (S. 37)

Interessant ist, dass „Verfassung“ hier nur im Zusammenhang mit „Werten“ erwähnt wird, die von jenen eingefordert werden, die „rechtmäßig“ hier leben. Das ist bemerkenswert, denn die österreichische Bundesverfassung zeichnet sich seit jeher durch ihre Rechtsförmlichkeit aus. Werte waren bisher ihre Sache nicht.

Die konflikthafte Ausgangssituation der Republik führte zu einer Einigung auf eine oft als „Spielregelverfassung“ bezeichnete Handlungsgrundlage. Es ging darum, klare und transparente Regelungen für die Handlungs- und Gestaltungsmacht der einzelnen Staatsorgane und deren Kontrolle zu schaffen. Der Spielraum für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen sollte möglichst klar abgrenzbar sein.

Mit ihrem Bekenntnis zu „verfassungsmäßigen Werten“ gerade an dieser Stelle reiht sich die Bundesregierung in eine Entwicklung ein, die wir seit einigen Jahren beobachten können. An die Stelle der als problematisch wahrgenommenen Debatten über eine „Leitkultur“ ist die Forderung eines Bekenntnisses zur jeweiligen Verfassung getreten. Dahinter steht zunächst die Erinnerung daran, dass der säkulare und freiheitliche Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern keine Überzeugungen oder gar Werte vorschreiben könne. Vielmehr bilde seine Verfassung die Grundlage für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Sie garantiere die Rechte jeder und jedes Einzelnen und lege den Rahmen fest, in dem diese und der Staat handeln sollen. Das ist ein universalistischer Ansatz, der in jedem Staat konkretisiert werden muss. Das ist dann aber weniger eine Aufgabe der Verfassung selbst als ihrer Vermittlung.

Allerdings lässt sich dieser universalistische Ansatz auch umdrehen. Nämlich dann, wenn davon ausgegangen wird, dass Verfassungsrecht, Demokratie und Menschenrechte nur im Westen oder in einem bestimmten Staat unter bestimmten Bedingungen entstanden sind, und daraus geschlossen wird, dass es einer bestimmten kulturellen Grundierung braucht, um sie überhaupt verstehen und gebrauchen zu können. Dann spricht man zwar von „verfassungsmäßigen Werten“ meint aber „Leitkultur“.

Das Regierungsprogramm lässt eine nähere Erläuterung offen. Die Tendenz scheint mir aber – nicht zuletzt aufgrund des konkreten Kontexts der Erwähnung – klar erkennbar.

Allerdings stellt sich dann die Frage, welche Werte nun in Österreich „verfassungsmäßig“ seien. Im sogenannten Bundes-Verfassungsgesetz, dem Hauptdokument der Bundesverfassung, kommen „Werte“ genau einmal vor. In Artikel 14 Absatz 5a werden sie im Rahmen der Aufgaben der Schulen genannt.

Weder im Text noch in der Diskussion über die Bundesverfassung haben Werte bislang eine große Rolle gespielt. Das hängt mit der bereits erwähnten Entstehungsgeschichte, der lange dominierenden betont nüchternen Zugangsweise der Rechtswissenschaft in Österreich aber vor allem mit dem instrumentellen Verständnis von Verfassungsrecht in der Politik gerade auch der 2. Republik zusammen. Die Verfassung war und ist demnach ein Gesetz, für das man größere Mehrheiten braucht, mehr nicht. Verfassungsrecht war selten etwas Bedeutsames oder Hervorgehobenes, mit dem man (wie in anderen Staaten) sorgsam umging. Kein anderer Staat der Welt regelt soviel Behördenorganisation wie Österreich in seiner Verfassung. Verfassungsbewusstsein wurde in Österreich kaum je gefördert, und während andere Staaten ihre „Verfassungsurkunde“ prominent ausstellen liegt unsere im Keller des Staatsarchivs. Und diese Einstellung zeigt sich an den meisten anderen Stellen des Regierungsprogramms. Verfassungsänderungen dienen dort dem Effizienzgewinn.

Dieser Befund sollte aber nicht zu vorschnellen Urteilen verleiten. Wertediskussionen in der Politik sind, wie hier schon angeklungen ist, aus vielen Gründen problematisch. Aber die Frage, was die Grundlagen unserer Bundesverfassung sind, was mit ihr angestrebt wurde und welche Bedeutung sie für unser Zusammenleben in Verschiedenheit hat, die muss gestellt werden. Heute wohl mehr denn je.

Was die österreichische Bundesverfassung (trotz allem) auszeichnet, ist die Klarheit und Nüchternheit in ihren Grundlagen, die, wie es Hans Kelsen in seinen demokratietheoretischen Schriften dargelegt hat, auf Gleichheit, Freiheit, Verständigungsbereitschaft und Kompromiss abzielen. Was die Bundesverfassung auszeichnet ist ihre Offenheit und Anschlussfähigkeit. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Menschenrechte und ihrem Fokus auf Gleichberechtigung, der unbedingten Sicherung der Würde jedes Menschen und der politischen Freiheit. Nicht ohne Grund hat Gerald Stourzh am österreichischen Beispiel das Konzept der Grundrechtsdemokratie entwickelt und auf ihre Fragilität hingewiesen. Gerade davon ist im Regierungsprogramm aber nicht die Rede.

Es ist schwierig, einzelne Vorschläge im Regierungsprogramm aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beurteilen. Sie sind oft sehr weit und unbestimmt, und selbst wenn sie detaillierter gefasst sind, bleibt sehr viel offen. Das haben schon zahlreiche Diskussionen und Einschätzungen gezeigt.

An dem, wie aber schon jetzt vor allem über die Rechte von Asylsuchenden, Behördenorganisation oder „Verfahrensbeschleunigung“ diskutiert wird, kann man abschätzen, was kommen kann. Es geht gar nicht so sehr darum, die Bundesverfassung zu ändern (dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit, die nicht so leicht zu bekommen sein wird). Es geht vielmehr darum, wie mit dem, was eigentlich aus der Verfassung folgen sollte, umgegangen wird, wie es in Frage gestellt wird, und wie ausprobiert wird, ob man in der Öffentlichkeit durchkommt und wie lange es dauert, bis es eine Angelegenheit vor den Verfassungsgerichtshof schafft. Den Vorwurf des Verfassungsbruchs kann man kontern, nicht zuletzt mit Kalauern wie „drei Juristen, fünf Meinungen“. Gerade weil es so wenig Bewusstsein für die Verfassung und Wissen über sie gibt, mache ich mir Sorgen, dass die notwendigen – ich sag es jetzt mit einem großen Wort – „geistigen“ Grundlagen der Bundesverfassung untergraben werden. Mit diesen Grundlagen meine ich nicht die  Sicherung  von Werten, sondern die Verankerung von durchsetzbaren Rechten, die Beziehungen zwischen Menschen regeln und jeden Menschen als Rechtssubjekt anerkennen. Mit den Grundlagen meine ich nicht den Schutz der Ordnung, sondern die Sicherung von Verfahren, die Transparenz und vor allem Zeit für Verständigung und Kompromissfindung garantieren.

Das kann abschließend an drei Beispielen konkret werden:

Auf S. 21 wird ohne nähere Erläuterung die „Verankerung der Menschenwürde […] in der Verfassung“ vorgeschlagen. Diese Forderung geht auf den Österreich-Konvent zurück, wo sie aus verschiedenen Gründen – auch von konservativer Seite – zurückgewiesen wurde. Zum einen sind die Menschenrechte Ausgestaltung der Würde, zum anderen ist ein solcher Artikel anfällig für politische Instrumentalisierung. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, was es bedeutet, einerseits die Würde des Menschen zu betonen, aber dann durchgängig Menschen primär nach Herkunft und Leistung zu beurteilen.

Die Freiheitsrechte werden an mehrere Stellen betont. Zugleich wird aber jenes Grundrecht, das historisch und programmatisch die Grundlage für gesellschaftlichen, religiösen und politischen Pluralismus in Europa darstellt, die Religions- und Gewissensfreiheit in Frage gestellt. Das geschieht im Zusammenhang mit dem Islam in Österreich, dem etwa mit dem Ausbau des sogenannten Kultusamts zu einer Religionsbehörde mit umfangreichen Kontrollbefugnissen begegnet werden soll (S. 38).

Nach dem Regierungsprogramm, den ersten Entscheidungen über den Jahreswechsel und die Regierungsklausur soll die Regierungstätigkeit vor allem durch eines geprägt sein: Schnelligkeit. Jetzt kann man darüber streiten, ob das in Österreich gehen wird. Entscheidend ist aber, was hier vermittelt wird: Diskussionen, Abstimmungen, Verfahren (vor Gericht oder in Parlamenten) halten auf. Das ist auch sicher in vielen Fällen zutreffend, und viele von uns wünschen sich, dass wichtige Themen nicht aufgehalten, sondern in Angriff genommen werden. Aber wenn alles „schnell und effizient“ gehen muss, dann wird das, was eine demokratische Verfassung als Sicherungen und Begrenzungen eingebaut hat, nur mehr als lästig und unnötig wahrgenommen.

Christoph Konrath
Jurist und Politikwissenschaftler, Mitglied im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft und engagiert für die politische Bildungsinitiative www.unsereverfassung.at