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Regina Polak: Keine Partei in Europa betreibt offensive Armutsbekämpfung

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Wien, 06.10.2018 (KAP) Die Armutsfrage wird in der Gesellschaft ausgeblendet, und gewisse Gruppen werden stigmatisiert und beschuldigt, anderen auf der Tasche zu liegen: Das betonten die Pastoraltheologin Regina Polak und Diakoniedirektorin Maria Katharina Moser bei einer Podiumsdiskussion der Initiative „Christlich geht anders“ am Freitagabend in Wien. Auch der ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, Othmar Karas, nahm an der Veranstaltung teil.

Ein jahrzehntelang einseitig geführter Diskurs, der von neoliberaler Ökonomie geprägt war, habe Menschen stets nur über Leistung definiert, so Polak. Dadurch werde eine Stimmung verbreitet, dass sich nur jene gesellschaftliche Anerkennung verdienten, die auch ihren Beitrag leisteten. Dennoch müsste man über Vermögen und gerechte Verteilung sprechen, auch wenn das derzeit „nicht schick“ sei Es sei Aufgabe der Kirche mit ihrer Option für die Armen, deren Situation offensiv zur Sprache zu bringen.

Es gebe keine Partei in Europa, die offensive Armutsbekämpfung betreibe, zeigte die Theologin auf. Stattdessen liege das Hauptaugenmerk darauf, die Armen nicht stärker werden zu lassen. Es gebe aber eine immer größere Schicht von Personen, die ziemlich perspektivlos sei und das auch wisse, und zu dieser Gruppe gehörten auch viele junge Menschen. „Diese Menschen tun sich schwer, ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, und das wahrscheinlich auf längere Zeit. Mein Eindruck ist, dass die Gesellschaft und die politischen Parteien sich damit abfinden“, so Polak.

Othmar Karas äußerte die Sorge, dass sich Europa das Prinzip, die Würde des Menschen als solche anzuerkennen, rauben lasse. Dann habe die Idee Europa allerdings keine Chance mehr, so der Leiter der ÖVP-Delegation. Er selbst sei aber optimistisch, weil die große Mehrheit der Menschen in der Europäischen Union eine handlungsfähigere, effiziente, demokratische EU wollten.

Die Frage sei, ob diese Mehrheit aufstehen werde, „oder ob wir uns von jenen die öffentliche Meinung bestimmen lassen, die am lautesten schreien“. Letztere würden jeden Tag mit der Botschaft „Nationalismus statt Demokratie“ auftreten. Das sei die Herausforderung. „Es liegt an uns Menschen, was wir für richtig halten, auch mehrheitsfähig zu machen“, appellierte Karas.

Er würdigte die Initiative „Christlich geht anders“. Es zeige sich, „dass wir mehr gemeinsam haben, als man vor der Veranstaltung geglaubt hat, und dass es zwischen Glaube, Hoffnung, christlichem Menschenbild und der Idee Europa einen Zusammenhang gibt“. Wenn man miteinander rede, könne der Grundkonsens, den es unter den Menschen gebe, gestärkt werden.

Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, betonte, dass die Diakonie eine „Stimme der Vernunft“ in der Gesellschaft sein möchte. Diese könne sich am besten Gehör verschaffen, „wenn wir über die Themen reden, die die Menschen tatsächlich bewegen“.

Es werde immer wieder gesagt, dass die Menschen Angst vor Asylproblematik und Flüchtlingen haben. „Das hören wir schon manchmal. Wenn man dann genauer ins Gespräch kommt, merkt man, dass das gar nicht die Sorgen und die Ängste sind“, so Moser. Diese würden sich vielmehr auf die eigene Wertschätzung und die eigene soziale Situation beziehen.

Wörtlich sagte die Theologin: „In Gesprächen höre ich zum Beispiel oft ‚Die Ausländer kriegen alles‘, und wenn dann genauer nachgefragt wird, findet man heraus, dass die Person sich selbst vom AMS oder potenziellen Arbeitgebern schlecht behandelt fühlt.“ Es sei wichtig, sich nicht auf allgemeine populistische Worthülsen einzulassen, sondern auf die wirklichen Probleme zu schauen, denn die würden alle betreffen.

Die Katholische Sozialakademie Österreich (KSÖ) wolle einen Beitrag zu mehr „guter Politik“ leisten, so KSÖ-Direktorin Magdalena Holztrattner. Dabei müsse man dazu bereit sein, auch eigene Positionen zu hinterfragen und auch zu ändern, ohne sich wie ein Fähnchen im Wind zu drehen. Denn um das gemeinsame Ziel eines „Guten Lebens für alle“ müsse gerungen werden.

Quelle: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1684256/initiative-christlich-geht-anders-gegen-gruppenstigmatisierung

 

VIDEO: Verliert Europa seine Seele?

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Europaabgeordneter Othmar Karas, Pastoraltheologin Regina Polak und Diakoniedirektorin Maria Katharina Moser diskutierten am 4.10.2018 im Wiener Stephanisaal über den Druck auf die Friedensunion, die Menschenrechte und den Sozialstaat und die Rolle der Kirchen.
Moderation: Gabriele Neuwirth.
Einleitung: ksoe-Direktorin Magdalena Holztrattner.
Video: Friedel Hans.

Hier können Sie das Video abrufen:

Verliert Europa seine Seele?

 

Maria Katharina Moser: In Europa an unserer Humanisierung arbeiten

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Diakonie und Kirchen seien „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“, sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Foto: epd/Michael Windisch
Diakonie und Kirchen seien „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“, sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Foto: epd/Michael Windisch

Podiumsdiskussion mit Theologin Polak und EU-Parlamentarier Karas

Wien (epdÖ) – „Die Seele Europas sind die Menschen. Wir haben im vergangenen Jahrhundert eine unglaubliche Bestialisierung der Menschen in Europa erlebt und im Anschluss daran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtscharta entwickelt. Aber diese Humanisierung ist nichts, was uns in Europa automatisch eignet, wir müssen immer an ihr arbeiten.“ Das sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser am Donnerstag, 4. Oktober, anlässlich einer Podiumsdiskussion über die „Seele Europas“ in Wien. Mit Moser diskutierten auf Einladung der ökumenischen Plattform „Christlich geht anders“ die römisch-katholische Theologin Regina Polak und Othmar Karas, ÖVP-Abgeordneter zum Europäischen Parlament.

In der Diskussion sprach sich Moser für eine Aufwertung der sozialen Dimension in Europa aus, die nicht nur den unmittelbar Betroffenen zugutekäme, sondern sich auch als ökonomisch rentabel erweise: „In vielen Bereichen ist in der Krisenzeit in Europa die Beschäftigung gesunken, im Bereich sozialer Dienstleistungen aber um 16 Prozent gestiegen. Die sozialen Leistungen, die wir als Diakonie oder Caritas erbringen sind also auch ein Konjunkturmotor in Europa.“ Die Diakonie-Direktorin kritisierte zudem „Glaubenssätze unserer Zeit: ‚Im Leben wird dir nichts geschenkt‘, ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘. Das widerspricht der christlichen Logik.“ Zuerst, so Moser, müsse die Wertschätzung und Anerkennung kommen; das setze wiederum Energien frei, dank derer wir Leistung erbringen könnten. Das zu betonen sei der Beitrag der Religionen im politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs. Diakonie und Kirchen sprächen als „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“.

Theologin Polak: Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen

Die Wiener Theologin Regina Polak betonte wie Moser die Notwendigkeit eines Begriffs der Werthaftigkeit des Menschen, der vor dessen ökonomischer Leistungsbemessung anzusiedeln sei: „Aus Wertestudien wissen wir, dass ein Mensch meist nur dann als wertvoll anerkannt wird, wenn er einen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Diese Einstellung ist vor allem bei gebildeten Menschen und der Mittelschicht verbreitet. Aber allein mit moralischen Appellen, die Würde des Menschen anzuerkennen, kommen wir hier nicht weiter. Wir müssen auf allen Ebenen schauen, was macht es so schwierig, die Würde des Menschen anzuerkennen?“  Europa, so Polak, sei in erster Linie eine „Erinnerungsgemeinschaft“, die sie jedoch durch eine gegenwärtige „Amnesie“ bedroht sehe. Die mit Stolz hervorgehobenen europäischen Werte seien „auf den Trümmern zweier Weltkriege und Millionen Toter“ entstanden – eine Erfahrung, aus der die Gründerväter gelernt hätten, aus der weiter zu lernen aber noch bevorstehe, sagte die Wissenschaftlerin, die unter anderem zum Verhältnis von Flucht, Migration und Religion forscht. Eine Quelle der gegenwärtigen Probleme liege im demographischen Wandel, der zu einer Überalterung des Kontinents führe: „Die Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen.“ Religionen, insbesondere die monotheistischen, könnten helfen, den europäischen Zukunftspessimismus zu überwinden: „Was zumindest die christliche und jüdische Tradition auf jeden Fall einbringen können ist, zu sagen: Da wartet jemand auf uns, uns ist Zukunft verheißen.“

EU-Abgeordneter Karas: Idee Europas wurzelt im Begriff der Menschenwürde

Der EU-Parlamentarier Othmar Karas sprach sich für eine Verstärkung des interreligiösen und intrareligiösen Dialogs in Europa aus. Als Politiker würde er es sich wünschen, von den anerkannten Religionsgemeinschaften innerhalb der Europäischen Union öfter gemeinsame Anliegen zu hören zu bekommen. „Wir müssen Staat und Kirche trennen“, so Karas, „aber der Glaube  spielt in der Einstellung der Menschen zu anderen eine große Rolle. Das ist auch Teil der politischen Verantwortung, daher erhoffe ich mir eine Intensivierung des Gedankenaustausches zwischen Politik und Religionen, und das nicht nur an Feiertagen.“ Karas zitierte zur Frage nach der Seele Europas Papst Franziskus, der in einer Rede vor dem Europäischen Parlament gemeint habe, die Seele Europas gehe verloren, wo die Idee Europas verlorengehe. Dieser Idee nach, sagte Karas, sei Europa eine Wertgemeinschaft, in der der die täglichen politischen Handlungen wurzeln müssten. Hier gebe es aktuell viele Rückschritte und Defizite, so zum Beispiel das Fehlen eines ausgeprägten Sanktionsmechanismus zur Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, oder eine ausstehende gemeinsame Definition von Armut. Dennoch wolle er sich von den Umständen nicht frustrieren lassen: „Wenn wir uns die Seele rauben lassen, die Suche nach der Würde im anderen, dann hat auch die Idee Europa keine Chance. Diese Idee wurzelt im christlich-jüdischen Glauben und im Begriff der Menschenwürde.“

Die Initiative „Christlich geht anders“ versteht sich laut Eigendefinition als Zusammenschluss von VertreterInnen katholischer, evangelischer und orthodoxer Organisationen mit dem Ziel, „zur gesellschaftlichen Lage Stellung zu beziehen“. Schwerpunktthemen seien dabei „Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Armut und die Not geflüchteter Menschen“. Die Logik des Marktkapitalismus widerspräche den Grundbotschaften des Christentums. Die Initiative orientiert sich dabei am Sozialwort des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRKÖ) aus dem Jahr 2003 und das päpstliche Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (2013). Prominente UnterstützerInnen der Initiative sind Judith Pühringer, Arbeitsmarktexpertin der Armutskonferenz, Paul M. Zulehner, Theologieprofessor und Obmann des Pastoralen Forums, Erhard Busek, früherer Vizekanzler und nunmehr Vorstandsvorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (Wien), und die Evangelische Frauenarbeit.

Quelle: https://evang.at/diakonie-direktorin-moser-muessen-in-europa-an-unserer-humanisierung-arbeiten/

 

Otto Friedrich: Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an.

Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an. Keine Empfehlung, dieses Buch auch zu lesen.
„Diese wirklich dummen Muslime“

Von Otto Friedrich

Man muss zugeben, dass einem nach der quälenden Lektüre der knapp 500 Seiten von Thilo Sarrazins neuem Bestseller „Feindliche Über­nahme“ angst und bang werden kann: Nicht zuletzt die in extenso ausgebreiteten Kriminalstatistiken, nach denen jedenfalls in Deutsch­land die „muslimische“ Kriminalität enorm zugenommen habe, was auch mit Einzelbeispielen drohend untermalt wird, lassen den Leser arg be­klommen zurück.

Der Rezensent muss aber auch konzedieren, dass er weder über die Bewertung von Kriminalstatistiken noch der diesbezüglichen deutschen Lage ausreichende Expertise verfügt. Aber es gibt solche längst nachzulesen – etwa jene des Bochumer Kriminolo­gen Thomas Feltes in der Frankfurter Allgemeinen vom 31. August, der kein gutes Haar an Methodik und Schlussfolgerungen des bekanntesten deutschen Kulturpolemikers lässt.

Erkenntisverhindernder Zugang

Dem vernichtenden Urteil des Kriminalexperten kann der Rezensent ähnliche eigene Bewertungen anderer Teile des Buches beigesellen: Sarrazin sucht auch in seinem neu­en Opus sein eigenes und das eines Gutteils seiner Leser bestehende Unbehagen zu be­stätigen – und zwar gegenüber dem Islam, der, wie der Untertitel des Buches sugge­riert, „den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“.

Nun soll keinesfalls bestritten werden, dass es rund um den Islam und die Muslime vieles anzufragen und zu kritisieren gibt, aber eine derartige Generalabrechnung, die dieser Religion durchgängig das Attribut „rückständig“ verleiht und den Muslimen kei­ne Möglichkeit zur  Weiterentwicklung zugesteht, hat man doch noch selten so gelesen – wenn auch pointiert und mit erwartbarer Verve vorgebracht.

Dabei ist Sarrazins Zugang schon im Grundsatz erkenntnisverhindernd. Der streitbare Publizist hat sich hingesetzt, den Koran von A bis Z (auf Deutsch!) gelesen – und ohne viel Federlesens seine Schlüsse gezogen. Dass er dabei entdeckt, dass diese Schrift un­systematisch aufgebaut ist und viele Wiederholungen aufweist, hätte er von jedem Stu­denten der Religionswissenschaft im ersten Semester erfahren können. Abgesehen von allerlei Fehlern (er spricht z.B. von 113 Suren des Koran, obwohl es tatsächlich 114 sind) kann auch keine Rede davon sein, dass er, wie er behauptet, den Koran „einer un­voreingenommenen und gesamthaften Lektüre“ unterzogen hat. Was auch die aktuelle westliche Islamwissenschaft in jahrzehntelanger Analyse nicht zusammengebracht hat (die islamische Gelehrsamkeit gilt Sarrazin sowieso als 14 Jahrhunderte lange Perpetu­ierung der Rückständigkeit), erschließt sich diesem Autor im Schnellverfahren: Es „kann kein Zweifel bestehen“, schreibt er, „dass es sich um einen in weiten Teilen ag­gressiven Text handelt, der die Liebe Gottes auf die Gläubigen beschränkt, deren Ab­grenzung zu den Ungläubigen betont und ein reaktionäres Gesellschaftsbild vermittelt“.

Sarrazin lässt in allen Facetten kein gutes Haar an dieser Religion: Das Bilderverbot habe im islamischen Bereich zu einer Verödung der Künste geführt, es gab „nie“ eine „selbständige islamische Baukultur“, es gab keine relevante wissenschaftliche Innovati­on aus dem islamischen Bereich, die über die „passive Verwaltung der erober­ten Wissensbestände“ hinausging. Dafür perpetuiere der Islam eine gewalttätige Unter­werfungsideologie, unterdrücke per se die Frau – all das führe zu einem Überlegen­heitsgefühl gegenüber allen anderen Religionen und Weltanschauungen und gleichzei­tig zu einem globalen kognitiven Defizit.

Ähnlich wie mit der Kriminalstatistik, aber diesmal gleich weltweit sucht Sarrazin nachzuweisen, dass Muslime, salopp gesagt, dümmer als Christen, Ostasiaten oder Eu­ropäer sind; dieser kognitive Defizienzgürtel zieht sich durch Geschichte und Geo­grafie – und bedrohe nun Europa. Auch in Deutschland seien diese Defizite der Grund für die Rückständigkeit der Muslime und für soziale Verwerfungen, die sich daraus er­geben.

Kognitive Defizienz der Muslime?

Die Unterdrückung der Frau – auch sie ist laut Sarrazin zentral für die Rückständig­keit des Islam – führe dazu, dass ihre Aufgabe auf Familie und Kinderkriegen fokus­siert sei, weswegen islamische Gesellschaften global Bevölkerungsexplosionen hervor­rufen würden. Sarrazin führt dazu aus, dass wissenschaftlicher Fortschritt, zu dem die Muslime eben nichts beigetragen hätten, etwa zur Senkung der Kindersterblichkeit ge­führt habe – aber als Folge davon würden nun die muslimischen Massen Europa und die Welt bedrohen.

All dem liegt für den Autor ein gewalttätig-kriegerischer Impetus zugrunde, der dem Koran immanent sei. Und er kritisiert die wörtliche Auslegung der koranischen Schrif­ten, die bis heute den Mainstream bilde. Pauschal bestreitet Sarrazin, dass der Islam wesentliche kulturelle Leistungen hervorgebracht habe, und wo es scheinbar welche gebe – etwa in der mittelalterlichen Mathematik –, habe er sie von anderen Kulturen übernommen, aber auch nur dann, wenn es für die Errichtung seines Herrschaftssys­tems dienlich war.

Analog bestreitet Sarrazin auch, dass die griechische Philosophie via muslimische Gelehrte ins christliche Mittelalter gerettet wurde. Es mag ja sinnvoll sein, derartige Narrative auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen, aber dann müssten die Behauptungen auch einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielten. Gerade daran hapert es – das erwähnte Beispiel belegt Sarrazin, wenn man sich die Mühe macht, auch die Fußnoten zu lesen, lediglich mit einem kurzen Beitrag, der im islamkritischen Blog „Achse des Guten“ erschienen ist. Daneben zitiert er noch einen Wolfgang Kania, dessen diesbezüg­liche Kompetenz etwa als Historiker auch nicht nachvollziehbar ist, weist ihn die entsprechende Fußnote nur als Leserbriefschreiber an die FAZ aus. Auch dass sich Sarrazin bei der Darstellung von Entwicklungen in der Frühzeit des Islam an die Propy­läen Weltgeschichte aus 1963 und die Fischer Weltgeschichte aus 1968 hält, zeigt, dass er sich nicht um den aktuellen Stand der Geschichtsforschung zum Thema kümmert.

Sarrazin fasst seine Sicht auf den Islam in den drei Punkten „expansive Eroberungs­kraft“, „technisch-zivilisatorischer Rückstand der islamischen Welt“ und „demografi­sche Expansion“, die eben für Deutschland und Europa eine Gefahr darstellten, zusam­men.

Und er leugnet zwar die auch in Deutschland präsenten Versuche nicht, die Koranex­egese von einer wörtlichen Interpretation zu einem den geschichtlichen Kontext in den Blick nehmenden Zugang zu verändern. Er tut diese aber als völlig irrelevant ab und desavouiert damit etwa die Arbeiten des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide, dem er vorhält, sich weit von den Aussagen des Korans zu entfernen – ein Vorwurf, den sich Khorchide auch von seinen salafistischen Kritikern ständig anhören muss.

Oberflächlich und vorgefasst

Sarrazins Kritik am heutigen Mainstream-Islam enthält zwar viel Wahres. Problema­tisch sind seine Auslassungen aber, weil er in Bezug auf den Islam einem völlig kultur­pessimistischen Ansatz frönt, der den Muslimen so gut wie keine Entwicklungsmög­lichkeit zugesteht, wenn sie sich nicht fundamental von ihrer Religion abwenden. Das ist, neben der oberflächlichen Darstellung und Analyse, die vor allem  seine Vorge­fasstheit stützt, der Hauptvorwurf, der dem Buch zu machen ist.

Es gibt ersprießlichere und seriösere kritische Bücher zum Islam, etwa Michael Blu­mes „Islam in der Krise“ (2017), die nicht alles besser wissen und den Westen aus­schließlich im Gestus kultureller, kognitiver und zivilisatorischer Überlegenheit begrei­fen. Aus Blumes lesenswertem Buch pflückt sich Sarrazin gerade ein Schlagwort her­aus, ohne sonst darauf einzugehen.

Anstatt Sarrazins Pamphlet sollte man eine andere Neuerscheinung zur Hand nehmen. Der von deutschen Medien als „Popstar der Salafisten“ gebrandmarkte Imam Abdul Adhim Kamouss erzählt in „Wem gehört der Islam?“ berührend und nachvollziehbar seinen Wandel vom unreflektierten Prediger, der feststellen musste, wie einige seiner Schüler islamistisch radikalisiert wurden, zum Reformer, der einem undogmatischen demokratie‑kompatiblen Islam das Wort redet. Sarrazin, bei dem Kamouss nicht vor­kommt, würde wohl auch ihn unter die liberalen Träumer einreihen. Und die Salafisten sehen in Kamouss sowieso den Abtrünnigen. Aber man sollte Leuten wie ihm mehr Aufmerksamkeit schenken als den dystopischen Niedergangsszenarien, denen sich Sar­razin in seinem Buch erneut hingibt.

Feindliche Übernahme
Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht.
Von Thilo Sarrazin. FinanzBuch Verlag 2018. 496 Seiten, geb., e 25,70

Wem gehört der Islam?
Plädoyer eines Imams gegen
das Schwarz-Weiß-Denken.
Von Abdul Adhim Kamouss. dtv 2018.
224 Seiten, kt., e 17,40

Quelle: DIE FURCHE • 37 | 13. September 2018
Veröffentlichung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Autors!

Sebastian Pittl: Für Christus, Volk und Vaterland?

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Die politische Theologie neurechter Bewegungen

Sebastian Pittl skizziert geschichtliche und ideologische Hintergründe und Wurzeln von aktuellen rechtsextremen Gruppierungen und Bewegungen. In der französischen Nouvelle Droite rund um ihre Gallionsfigur Alain de Benoist (*1943) findet er Anknüpfungspunkte, aber auch Kritikmöglichkeiten. Und er blickt auf die Querverbindungen zum Christentum.

Das Wiedererstarken nationalistischer und rechtsextremer Gruppierungen und Tendenzen stellt zweifellos eine der wichtigsten Herausforderungen gegenwärtiger europäischer Gesellschaften dar. Von Russland über Ungarn bis hin zur AfD oder dem Front national verbindet sich diese Entwicklung dabei mit dem Rückgriff auf christliche Motive. Dies ist offensichtlich in der Allianz zwischen Wladimir Putin und hohen Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche, in der Präambel der ungarischen Verfassung, die mit Bezug auf den Heiligen Stephan Ungarn als christliche Nation inszeniert, aber auch in den Bezügen auf die „abendländisch-christliche Kultur“ der AfD oder der engen Verflechtung von katholischen Traditionalisten im Umkreis der Piusbruderschaft mit dem Front National Marine Le Pens.

Signifikante ideologische Veränderungen

Die neurechten Bewegungen in Europa sind ein äußerst heterogenes und oft sogar widersprüchliches Phänomen. Dennoch gibt es über die verschiedenen ideologischen Grenzen hinweg einen Austausch von Ideen und Begriffen sowie länderübergreifende Allianzen. Kritiker*innen dieser Bewegungen (auch aus der Theologie) übersehen häufig die signifikanten ideologischen Veränderungen, die innerhalb dieses Milieus während der letzten Jahrzehnte zu beobachten sind. Dadurch werden gewisse Stereotype von den Rechten reproduziert, die eine konstruktive Auseinandersetzung und effektive Kritik erschweren.

Auf intellektueller Ebene hatte die französische Nouvelle Droite rund um ihre Gallionsfigur Alain de Benoist (*1943) in den letzten Jahrzehnten eine Vorreiterrolle. Ihre Strahlkraft reicht dabei von der Lega Nord in Italien über Vlaams Belang in Belgien bis hin zum russischen Vordenker des neuen Konservativismus Aleksandr Dugin, dem ein entscheidender Einfluss auf Zirkel rund um Wladimir Putin nachgesagt wird.[1]

Pioniere für einen Weg jenseits der drei „Totalitarismen“

Die Nouvelle Droite hat ihre Wurzeln in der von Benoist 1968 mitgegründeten GRECE (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne), einem neorechten Thinktank. Benoist und der Nouvelle Droite gelang es durch rhetorische Distanzierung von der „alten Rechten“ sowie durch Verwendung einer politisch korrekten, d. h. antirassistischen, antifaschistischen und pro-demokratischen Sprache, die Rechte aus ihrer Isolation herauszuführen und gesellschaftlich wieder salonfähig zu machen. Benoist und seine Weggefährten knüpfen dabei an Denker der sogenannten „Konservativen Revolution“ (Armin Mohler) wie Carl Schmitt, Ernst Jünger oder Julius Evola an, in denen sie Pioniere für einen Weg jenseits der drei „Totalitarismen“: Faschismus, Sozialismus und egalitären Liberalismus erblicken.

Starke medienwirksame Bilder, die sich dem kollektiven Gedächtnis einprägen sollen

Erstaunlich ist, wie Benoist sich auch zahlreiche „linke“ Theoretiker*innen zu eigen macht. So knüpft Benoist etwa an Antonio Gramsci, den italienischen Marxisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, um die entscheidende Bedeutung des Kampfes um kulturelle Hegemonie, d. h. um die Begriffe und Bilder, die den öffentlichen Diskurs und Vorstellungs- und Wertewelt der Individuen prägen, zu betonen. Wirkmächtig aufgegriffen wird dies derzeit von rechtsextremen Jugendbewegungen wie der Casa Pound in Italien oder der „Identitären Bewegung“ in Österreich und Deutschland.[2] Diese von manchen auch als „rechte Hippster-Bewegung“ charakterisierte Gruppe versucht über professionelle Medienarbeit im Internet sowie durch Protestformen, wie sie traditioneller Weise eher von linken Bewegungen bekannt sind, möglichst große Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ziel ist es, starke medienwirksame Bilder zu erzeugen, die sich dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft einprägen sollen. Zum Repertoire dieser Form der „Metapolitik“ gehören effektvolle Störaktionen von Veranstaltungen (Vorträge, Theateraufführungen) oder die Besetzung von Hörsälen und Parteizentralen, aber auch Musikvideos und „Theoriearbeit“.

Begriff „Ethnopluralismus“ anstelle der Rassenideologie der Alten Rechten

Die „Identitären“ berufen sich mit Benoist auf „Ethnopluralismus“. Der Begriff tritt bei Benoist an die Stelle der Rassenideologie der Alten Rechten. Auf dem Globus gibt es demnach unterschiedliche ethnokulturelle Gruppen mit je eigener Identität und einem je eigenen Wertesystem. Keine der Kulturen sei dabei der anderen über- oder untergeordnet, zerstörerisch sei jedoch die Vermischung dieser Kulturen, da sie die Menschen ihrer konkreten, gewachsenen Identität berauben würde. Migration und die durch die Vorherrschaft des derzeitigen kapitalistischen Systems erzwungene Uniformisierung der Menschheit sind daher entschieden abzulehnen. Die Ideologie der „Egalität“, d. h. der abstrakten Gleichheit aller Menschen ungeachtet ihrer Kultur und Geschichte, wie sie sich z. B. in den Menschenrechten spiegle, dient für Benoist nur der Legitimation des liberal-kapitalistischen Systems. Sie ist Ausdruck derselben Nivellierung von Differenz. Diese zu verteidigen, so das postmodern inspirierte Mantra Benoists, sei die Kernaufgabe der neuen Rechten.

Interessanterweise verabschiedet sich die Nouvelle Droite in den letzten Jahren auch vom Nationalismus. In einem Manifest, das Benoist mit Charles Champetier um die Jahrtausendwende verfasste[3], heißt es, die Nation sei einerseits zu groß, um den alltäglichen Herausforderungen der Menschen gerecht zu werden, andererseits zu klein, um globalen Herausforderungen gewachsen zu sein. An Stelle der Nation sollte ein starkes Europa treten mit einer lebendigen Pluralität regionaler, in sich jedoch möglichst homogener Identitäten.

Zu all dem gesellt sich eine entschieden pro-demokratische Rhetorik, allerdings nicht im Sinne der „liberalen“, repräsentativen Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung und dem Parteienapparat, sondern als direkte, plebiszitäre Demokratie. Carl Schmitt scheint Pate zu stehen, wenn darauf hingewiesen wird, dass eine solche Demokratie nur in relativ homogenen Gesellschaften funktionieren könne. Dies ist der ideologische Hintergrund, vor dem etwa auch die Forderungen der FPÖ oder AfD nach mehr direkter Demokratie und einer stärkeren Berücksichtigung des „Volkes“ zu verstehen sind.[4]

Faktor „Religion“ kommt in dieser ideologischen Atmosphäre eine entscheidende Bedeutung zu

Aus theologischer Sicht gilt es auf die entscheidende Bedeutung zu verweisen, die dem Faktor „Religion“ in dieser ideologischen Atmosphäre zukommt. Aleksandr Dugin, dessen Rezeption innerhalb der europäischen Rechten inzwischen mit der von Benoist vergleichbar ist, knüpft stark an christliche, und hierbei insbesondere eschatologische Motive an.[5] Für Benoist ist die politische Theologie Carl Schmitts ein entscheidender Bezugspunkt. Hinsichtlich des Christentums scheint die Diagnose Benoists, der auch selber Theologie studierte, jedoch zutreffender als die von Schmitt zu sein. Benoist macht sich die Säkularisierungsthese des evangelischen Theologen Gogarten zu eigen, um zu betonen, dass das jüdisch-christliche Erbe sowohl die Entzauberung der Welt in Gang gesetzt als auch jenes Egalitätsdenken vorbereitet habe, das in den Menschenrechte seinen Ausdruck finde. Anders als Gogarten sieht Benoist hierin jedoch nicht die Ermöglichung einer legitimen Autonomie der Welt sowie die Anerkennung einer irreduziblen Würde des Einzelnen, sondern den direkten Weg in einen zerstörerischen Nihilismus, in dem jedes Bewusstsein für Differenz und Transzendenz verschwunden sei.

Benoist setzt auf ein erneuertes Heidentum

Benoist setzt im Unterschied zu den vielen neurechten Bewegungen, die sich von ihm inspiriert zeigen, zur Rettung der europäischen Identität daher nicht auf das Christentum, sondern – in diesem Punkt den Nationalsozialismus ähnlicher als Schmitt – auf ein erneuertes Heidentum. Seine Gegenüberstellung von Heidentum und Christentum zeigt sich dabei von Nietzsche inspiriert:  „Wir möchten dem Gesetz den Glauben gegenüberstellen, dem Logos den Mythos, der Schuld des Geschöpfs die Unschuld des Werdens, der Anpreisung von Dienst und Bescheidenheit die Legitimität des Willens zur Macht, der Abhängigkeit die Autonomie des Menschen. Wir schätzen das Verlangen höher als die Vernunft, […] das Bild höher als den Begriff, die Heimat höher als das Exil, den Willen zur Geschichte höher als das Ende der Geschichte und den Willen zur Veränderung, der „Ja“ zur Welt sagt, höher als die Negativität und die Verweigerung.“[6]

Man mag es Benoist zu Gute halten, dass er selbst um die Konstruiertheit seines Neuheidentums zu wissen scheint. An anderer Stelle des eben zitierten Buches schreibt er über die ursprüngliche Wahl zwischen jüdisch-christlichem Glauben und Heidentum: „[…] die ursprüngliche Entscheidung bleibt eine Frage der Wahl […], die niemals vollständig die Notwendigkeit ihrer eigenen Postulate beweisen kann. Nichts erspart uns, diese Wahl zu machen […] Die conditio humana zeigt sich im vollen Bewusstsein dieser Berufung. Subjektivität ist daher nichts, was sich verstecken müsste, weil sie subjektiv ist – eben hierin liegt ihre Stärke.“ Hier spricht sich offen aus, was im Kern der Identitätsbestimmungen neurechter Gruppen zu liegen scheint: radikale Subjektivität, ein „Ich bin ich“ bzw. „Wir sind wir“ wie es auch in der Selbstbezeichnung der „Identitären Bewegung“ klar hervortritt.

Gegenwärtige Identitätspolitik und Heilsgeschichte

Dass Benoist dem jüdisch-christlichen Erbe als Basis für eine neurechte Identitätspolitik zu Recht misstraut und in diesem Sinne wohl auch tiefer dringt als andere neurechte Gruppen und Parteien, zeigt sich, wenn man auf eine biblische Stelle blickt, die auf den ersten Blick strukturanalog zu diesem inhaltslosen „Ich bin ich“ zu sein scheint: die Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14. Gott offenbart sich Mose als „ähjä aschär ähjä“ – „Ich bin, der ich bin“ bzw. wohl noch treffender: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Der Kontext dieser Offenbarung verträgt sich jedoch schwerlich mit dem Wunsch nach „klaren und starken Identitäten“[7] der Neuen Rechten: Moses, ein Hebräer mit ägyptischem Namen, Migrant der zweiten Generation, der auch noch aus seinem zweiten Heimatland fliehen muss, weil er einen Sklavenaufseher erschlägt, ist sich selbst und seiner eigenen Herkunft zutiefst entfremdet, als er auf den brennenden Dornbusch trifft. Weder ganz Ägypter noch ganz Hebräer, ist er das, was man in postkolonialer Terminologie eine hybride Existenz nennen würde. Er heiratet, fern von seiner ersten und zweiten Heimat, die Tochter eines midianitischen Priesters und gibt seinem Sohn den bezeichnenden Namen Gershom (Ödgast), denn „ein Fremder bin ich in einem fremden Land geworden“ (Ex 2,22). Hier beginnt das befreiende, Sinn und Identität stiftende Handeln des „Ich werde sein, der ich sein werde“ an Israel. Was bedeutet es im Kontext gegenwärtiger Identitätspolitik, sich in diese Heilsgeschichte einzuschreiben?

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in feinschschwarz.net Theologisches Feuilleton, 12.7.2017

Sebastian Pittl
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt.

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Tamir Bar-On, „Intellectual Right-Wing Extremism – Alain de Benoist’s Mazeway Resynthesis since 2000“, in: Uwe Baceks/Patrick Moreau (Hgg.), The Extreme Right in Europe. Current Trends and Perspectives, Göttingen, 2012, 333–358.

[2] Vgl. Julian Bruhns/Kathrin Glösel/Natascha Strobl, Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster 2014.

[3] Alain de Benoist/Charles Champetier, Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000. Der Text ist online leicht zu finden.

[4] Vgl. die entsprechenden Wahlprogramme.

[5] Vgl. John Cody Mosbey, Political Theology. Aleksandr Dugin and the Fourth Poltical Theory. Working paper, 2017.

[6] Übersetzung aus dem Englischen nach dem online ebenfalls leicht auffindbaren Text von „On being a pagan“. Das Original wurde 1981 in Paris unter dem Titel „Comment peut-on être païen?“ veröffentlicht. Eine deutsche Version erschien unter dem Titel: „Heide sein zu einem neuen Anfang. Die europäische Glaubensperspektive“ (Tübingen 1982).

[7] Vgl. dazu ebenfalls das Manifest von Benoist und Champetier.

Christoph Konrath: Das Regierungsprogramm und die Bundesverfassung

Hindernisse und Umwege

Im Wahlkampf 2017 und während der Regierungsverhandlungen wurde immer wieder die Befürchtung geäußert, dass eine ÖVP-FPÖ-Koalition einen vollständigen Umbau der Staatsorganisation durchführen werde. Am Beispiel Ungarns oder Polens wurde auf die Gefahren von maßgeblichen Verfassungsänderungen hingewiesen. Solche Änderungen haben in den letzten Jahren tatsächlich in Ungarn stattgefunden. In Polen werden sie vorbereitet, aber es ist unklar, ob es derzeit die erforderlichen Mehrheiten dafür geben würde.

Im Programm der neuen Bundesregierung werden viele Maßnahmen angeführt, aber die Vorschläge für Änderungen der Bundesverfassung (und nur mit solchen könnte eine grundlegende Veränderung der Staatsorganisation vorgenommen werden) beschränken sich auf einige eher unzusammenhängende und nicht näher ausgeführte Punkte unter der Überschrift „Moderner Verfassungsstaat“ (S. 21). Diese reichen von der Schuldenbremse in der Verfassung, über die Evaluierung der parlamentarischen Abläufe, über das Recht auf Bargeld, ein Staatsziel Wirtschaftswachstum bis zur Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung. Das sind alles Themen, die auf Vorschläge der nunmehrigen Koalitionspartner aus den letzten Jahren zurückgehen. Zu manchem finden sich da nähere Ausführungen, aber insgesamt bleibt es sehr offen.

Weitere Maßnahmen, die Änderung der Bundesverfassung voraussetzen, betreffen die Verbesserung und Neuordnung der Kompetenzverteilung (also der Zuständigkeiten zur Gesetzgebung in bestimmten Fragen) zwischen Bund und Ländern. Auch das ist nicht weiter neu und findet sich praktisch (freilich mit unterschiedlichen Schwerpunkten) in allen Regierungsprogrammen seit den 1990er-Jahren.

Was aber auffällt ist, wie über die Bundesverfassung selbst im Regierungsprogramm gesprochen wird.

Im Vorwort wird das „Fundament“ genannt, auf dem die neue Regierung tätig werden will: „[Es] setzt sich zusammen aus der österreichischen Verfassung, der immerwährenden Neutralität, den Grundprinzipien der Europäischen Union, aber auch den Grund- und Menschenrechten, den bürgerlichen Freiheiten sowie den Rechten von Minderheiten.“

Diese Aussage klingt selbstverständlich. Auffallend ist, dass hier und an vielen anderen Stellen des Regierungsprogramms allgemein von der österreichischen „Verfassung“ die Rede ist. Damit ist wohl die Bundesverfassung gemeint, aber nur einmal im gesamten Regierungsprogramm und zwar im Kapitel über Kultur wird sie ausdrücklich so bezeichnet. Das mag pedantisch klingen, aber es kann auch ein Hinweis darauf sein, wie unbestimmt die Vorstellungen von Politikerinnen, Politikern und ihren Stäben im Hinblick auf Verfassung und Verfassungsrecht in Österreich sind. Das zeigt sich auch darin, dass neben der „Verfassung“ die Neutralität, Grundprinzipien der EU, Grund- und Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Rechte der Minderheiten genannt werden. Das sind jedoch alles Regelungen, die zum Kernbestand von Verfassungsrecht im Allgemeinen und in Österreich ganz besonders zählen.

Mehr über die „Verfassung“ kommt erst im Kapitel über Integration. Dort heißt es: „Von jenen Personen, die rechtmäßig und dauerhaft in unserem Land leben, wird eingefordert, dass sie sich aktiv um ihre Integration in die Gesellschaft und ihr Fortkommen bemühen sowie unsere verfassungsmäßig verankerten Werte hochhalten. Nur auf dem Fundament dieser gemeinsamen Wertebasis kann ein friedliches Zusammenleben funktionieren. Erst das Leben dieser Werte ermöglicht eine erfolgreiche Integration in Österreich.“ (S. 37)

Interessant ist, dass „Verfassung“ hier nur im Zusammenhang mit „Werten“ erwähnt wird, die von jenen eingefordert werden, die „rechtmäßig“ hier leben. Das ist bemerkenswert, denn die österreichische Bundesverfassung zeichnet sich seit jeher durch ihre Rechtsförmlichkeit aus. Werte waren bisher ihre Sache nicht.

Die konflikthafte Ausgangssituation der Republik führte zu einer Einigung auf eine oft als „Spielregelverfassung“ bezeichnete Handlungsgrundlage. Es ging darum, klare und transparente Regelungen für die Handlungs- und Gestaltungsmacht der einzelnen Staatsorgane und deren Kontrolle zu schaffen. Der Spielraum für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen sollte möglichst klar abgrenzbar sein.

Mit ihrem Bekenntnis zu „verfassungsmäßigen Werten“ gerade an dieser Stelle reiht sich die Bundesregierung in eine Entwicklung ein, die wir seit einigen Jahren beobachten können. An die Stelle der als problematisch wahrgenommenen Debatten über eine „Leitkultur“ ist die Forderung eines Bekenntnisses zur jeweiligen Verfassung getreten. Dahinter steht zunächst die Erinnerung daran, dass der säkulare und freiheitliche Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern keine Überzeugungen oder gar Werte vorschreiben könne. Vielmehr bilde seine Verfassung die Grundlage für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Sie garantiere die Rechte jeder und jedes Einzelnen und lege den Rahmen fest, in dem diese und der Staat handeln sollen. Das ist ein universalistischer Ansatz, der in jedem Staat konkretisiert werden muss. Das ist dann aber weniger eine Aufgabe der Verfassung selbst als ihrer Vermittlung.

Allerdings lässt sich dieser universalistische Ansatz auch umdrehen. Nämlich dann, wenn davon ausgegangen wird, dass Verfassungsrecht, Demokratie und Menschenrechte nur im Westen oder in einem bestimmten Staat unter bestimmten Bedingungen entstanden sind, und daraus geschlossen wird, dass es einer bestimmten kulturellen Grundierung braucht, um sie überhaupt verstehen und gebrauchen zu können. Dann spricht man zwar von „verfassungsmäßigen Werten“ meint aber „Leitkultur“.

Das Regierungsprogramm lässt eine nähere Erläuterung offen. Die Tendenz scheint mir aber – nicht zuletzt aufgrund des konkreten Kontexts der Erwähnung – klar erkennbar.

Allerdings stellt sich dann die Frage, welche Werte nun in Österreich „verfassungsmäßig“ seien. Im sogenannten Bundes-Verfassungsgesetz, dem Hauptdokument der Bundesverfassung, kommen „Werte“ genau einmal vor. In Artikel 14 Absatz 5a werden sie im Rahmen der Aufgaben der Schulen genannt.

Weder im Text noch in der Diskussion über die Bundesverfassung haben Werte bislang eine große Rolle gespielt. Das hängt mit der bereits erwähnten Entstehungsgeschichte, der lange dominierenden betont nüchternen Zugangsweise der Rechtswissenschaft in Österreich aber vor allem mit dem instrumentellen Verständnis von Verfassungsrecht in der Politik gerade auch der 2. Republik zusammen. Die Verfassung war und ist demnach ein Gesetz, für das man größere Mehrheiten braucht, mehr nicht. Verfassungsrecht war selten etwas Bedeutsames oder Hervorgehobenes, mit dem man (wie in anderen Staaten) sorgsam umging. Kein anderer Staat der Welt regelt soviel Behördenorganisation wie Österreich in seiner Verfassung. Verfassungsbewusstsein wurde in Österreich kaum je gefördert, und während andere Staaten ihre „Verfassungsurkunde“ prominent ausstellen liegt unsere im Keller des Staatsarchivs. Und diese Einstellung zeigt sich an den meisten anderen Stellen des Regierungsprogramms. Verfassungsänderungen dienen dort dem Effizienzgewinn.

Dieser Befund sollte aber nicht zu vorschnellen Urteilen verleiten. Wertediskussionen in der Politik sind, wie hier schon angeklungen ist, aus vielen Gründen problematisch. Aber die Frage, was die Grundlagen unserer Bundesverfassung sind, was mit ihr angestrebt wurde und welche Bedeutung sie für unser Zusammenleben in Verschiedenheit hat, die muss gestellt werden. Heute wohl mehr denn je.

Was die österreichische Bundesverfassung (trotz allem) auszeichnet, ist die Klarheit und Nüchternheit in ihren Grundlagen, die, wie es Hans Kelsen in seinen demokratietheoretischen Schriften dargelegt hat, auf Gleichheit, Freiheit, Verständigungsbereitschaft und Kompromiss abzielen. Was die Bundesverfassung auszeichnet ist ihre Offenheit und Anschlussfähigkeit. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Menschenrechte und ihrem Fokus auf Gleichberechtigung, der unbedingten Sicherung der Würde jedes Menschen und der politischen Freiheit. Nicht ohne Grund hat Gerald Stourzh am österreichischen Beispiel das Konzept der Grundrechtsdemokratie entwickelt und auf ihre Fragilität hingewiesen. Gerade davon ist im Regierungsprogramm aber nicht die Rede.

Es ist schwierig, einzelne Vorschläge im Regierungsprogramm aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beurteilen. Sie sind oft sehr weit und unbestimmt, und selbst wenn sie detaillierter gefasst sind, bleibt sehr viel offen. Das haben schon zahlreiche Diskussionen und Einschätzungen gezeigt.

An dem, wie aber schon jetzt vor allem über die Rechte von Asylsuchenden, Behördenorganisation oder „Verfahrensbeschleunigung“ diskutiert wird, kann man abschätzen, was kommen kann. Es geht gar nicht so sehr darum, die Bundesverfassung zu ändern (dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit, die nicht so leicht zu bekommen sein wird). Es geht vielmehr darum, wie mit dem, was eigentlich aus der Verfassung folgen sollte, umgegangen wird, wie es in Frage gestellt wird, und wie ausprobiert wird, ob man in der Öffentlichkeit durchkommt und wie lange es dauert, bis es eine Angelegenheit vor den Verfassungsgerichtshof schafft. Den Vorwurf des Verfassungsbruchs kann man kontern, nicht zuletzt mit Kalauern wie „drei Juristen, fünf Meinungen“. Gerade weil es so wenig Bewusstsein für die Verfassung und Wissen über sie gibt, mache ich mir Sorgen, dass die notwendigen – ich sag es jetzt mit einem großen Wort – „geistigen“ Grundlagen der Bundesverfassung untergraben werden. Mit diesen Grundlagen meine ich nicht die  Sicherung  von Werten, sondern die Verankerung von durchsetzbaren Rechten, die Beziehungen zwischen Menschen regeln und jeden Menschen als Rechtssubjekt anerkennen. Mit den Grundlagen meine ich nicht den Schutz der Ordnung, sondern die Sicherung von Verfahren, die Transparenz und vor allem Zeit für Verständigung und Kompromissfindung garantieren.

Das kann abschließend an drei Beispielen konkret werden:

Auf S. 21 wird ohne nähere Erläuterung die „Verankerung der Menschenwürde […] in der Verfassung“ vorgeschlagen. Diese Forderung geht auf den Österreich-Konvent zurück, wo sie aus verschiedenen Gründen – auch von konservativer Seite – zurückgewiesen wurde. Zum einen sind die Menschenrechte Ausgestaltung der Würde, zum anderen ist ein solcher Artikel anfällig für politische Instrumentalisierung. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, was es bedeutet, einerseits die Würde des Menschen zu betonen, aber dann durchgängig Menschen primär nach Herkunft und Leistung zu beurteilen.

Die Freiheitsrechte werden an mehrere Stellen betont. Zugleich wird aber jenes Grundrecht, das historisch und programmatisch die Grundlage für gesellschaftlichen, religiösen und politischen Pluralismus in Europa darstellt, die Religions- und Gewissensfreiheit in Frage gestellt. Das geschieht im Zusammenhang mit dem Islam in Österreich, dem etwa mit dem Ausbau des sogenannten Kultusamts zu einer Religionsbehörde mit umfangreichen Kontrollbefugnissen begegnet werden soll (S. 38).

Nach dem Regierungsprogramm, den ersten Entscheidungen über den Jahreswechsel und die Regierungsklausur soll die Regierungstätigkeit vor allem durch eines geprägt sein: Schnelligkeit. Jetzt kann man darüber streiten, ob das in Österreich gehen wird. Entscheidend ist aber, was hier vermittelt wird: Diskussionen, Abstimmungen, Verfahren (vor Gericht oder in Parlamenten) halten auf. Das ist auch sicher in vielen Fällen zutreffend, und viele von uns wünschen sich, dass wichtige Themen nicht aufgehalten, sondern in Angriff genommen werden. Aber wenn alles „schnell und effizient“ gehen muss, dann wird das, was eine demokratische Verfassung als Sicherungen und Begrenzungen eingebaut hat, nur mehr als lästig und unnötig wahrgenommen.

Christoph Konrath
Jurist und Politikwissenschaftler, Mitglied im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft und engagiert für die politische Bildungsinitiative www.unsereverfassung.at

Martin Schenk: Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen.

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„Der Neid sagt: Du oder ich, aber nie: Wir beide.  Der Grund, einem anderen etwas nicht zu gönnen, ist so stark, dass man selber den Nachteil in Kauf nimmt. Umgekehrt formuliert: Der Neid schadet einem selbst, weil man sich das, was einem nützt, selbst versagt. Der Neid narkotisiert den eigenen Genuss. Die Mindestsicherung ist ein gutes Beispiel. In Niederösterreich und jetzt auch in Oberösterreich wird Asyl als Grund für die Kürzungen vorgeschoben, aber es trifft Alleinerziehende, familienreiche Kinder, pflegende Angehörige und schadet damit allen. Durch den Neid auf die Flüchtlinge vergisst man das. Das ist wie bei Trickdieben: Es braucht immer einen, der mit ablenkt, damit dir der andere die Geldbörse aus der Tasche ziehen kann“.

Hier Link zu gesamtem Interview:

http://www.kirchenzeitung.at/newsdetail/rubrik/der-neid-funktioniert-wie-ein-trickdieb/

 

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie, in seinem neuen Buch „Genug gejammert! Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen“
gibt es dazu ein eigenes Kapitel „Gefühle. Von Lebensmitteln, die wir nicht essen können.“ www.genuggejammert.at

Paloma Fernández de la Hoz: Populismus, Emotionen und Demokratie

Paloma Fernández de la Hoz

Populismus, Emotionen und Demokratie

Herbstzeit ist heuer Wahlzeit …  Wenn wir uns etwa in die 1970er-Jahre versetzen könnten, wären die unterschiedlichen politischen Angebote viel deutlicher als heute. In unserer Zeit ist die politische Kartografie dynamischer, pluraler und eindeutig viel konfuser geworden, da wir heute vor einer Zukunft stehen, die offener denn je erscheint. „Alles ist miteinander verbunden“,  wiederholt Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’. Die gegenseitige Abhängigkeit innerhalb und außerhalb der eigenen nationalen Grenzen nimmt zu.

Populismus – Mode, Ausrutscher oder Vision?

So viel Offenheit klingt theoretisch sehr schön, macht vielen aber auch Angst. Wenn hinzu noch andere negativen Emotionen kommen, dann bildet sich die Bereitschaft zur Akzeptanz populistischer Politik.  Was aber ist Populismus? Der Begriff wird meist so konfus und instrumentalisiert – häufig als Schimpfwort – verwendet, dass er Gefahr läuft, als das zigste Modewort abgewertet zu werden. Persönlich ringe ich nicht um Vokabel, glaube aber mit Umberto Eco, dass es guttut, zwischen verschiedenen Phänomenen zu unterscheiden. Denn nur durch Klarheit sind Menschen in der Lage, gezielt zu handeln.

Zugegeben: Noch heute wird über den Begriff Populismus diskutiert. Denn es geht um ein politisches Muster mit unterschiedlichen Wurzeln und unterschiedlichen Grads an Intensität, je nach den Umständen. Es lohnt sich aber, Menschen Gehör zu schenken, die das Phänomen seit langer Zeit verfolgen: Populismus ist viel mehr als ein Überrest alter Zeiten oder eine Art punktueller „Ausrutscher“ aus der politischen Korrektheit.

Populismus ist eine politische Vision mit ihren Theoretikern. Diese Vision korreliert mit einer Präferenz für gewisse Handlungs- und Kommunikationsstrategien. Sie kann unter gewissen Umständen politischen Erfolg haben. Und sie ist und wirkt zwangsläufig antidemokratisch.

Politische Vision: Fortschritt mit Rückschritten

Populismus ist keine primitive, antimoderne Art, Politik zu betreiben. Vielmehr entsteht er infolge der Moderne und ihrer Widersprüche. Es geht um eine Antwort auf soziale Krisen, die von neoliberal gestalteten Globalisierungsprozessen immerzu generiert werden. Wie die totalitären Modelle, die 1945 besiegt wurden, ist Populismus streng gegen Eliten, aber im Unterschied zum Faschismus und Altkommunismus stellt der Populismus die Demokratie theoretisch nicht infrage. Er versucht, aus einer Massengesellschaft eine homogene und somit politisch wirksame Einheit zu machen.

Das Herz populistischer Projekte ist „das Volk“. Nicht die Nation, die nicht nur als Herkunftsgesellschaft, sondern auch als Gemeinschaft aller BürgerInnen erlebt werden kann. Das Volk als solches gibt es aber nicht: „Populist ist, wer sich ein virtuelles Bild vom Willen des Volkes macht.“ (Umberto Eco) Dieses Bild muss aber sehr scharf sein, um trotz Virtualität zu bestehen. Dies erklärt die Bedeutung der Dialektik „wir“ (Volk) und „die anderen“ (Feinde).

Links oder rechts?

Traditionelle Kategorien wie „links“ und „rechts“ gelten nicht, um Populismus näherzukommen. Im Grunde genommen sind Populisten scharfe KritikerInnen der Moderne. Sie glauben nicht an das Integrationspotenzial klassischer repräsentativer Demokratien und versuchen daher, ihr Land durch Pragmatismus (Konstruktion einer inexistenten Homogenität) politisch operativ zu gestalten. Die ideologische Orientierung des Projektes, das in der Folge unterstützt wird, kann variieren.

Sie auf Opportunisten zu reduzieren, ist ein großer Irrtum. Populismus als politische Theorie muss ernst genommen werden. Die Verteidigung der repräsentativen Demokratie führt zur Konfrontation mit anderen Sichten von Gesellschaft und Politik, die gerade an diese repräsentative Demokratie nicht glauben.

Im wohlhabenden Europa generiert eine neoliberal geleiteten Weltwirtschaft nach wie vor VerliererInnen, und Menschen werden bloß als Konsumenten oder Produzenten wahrgenommen. Das Pikante dabei: Ein Großteil des Unbehagens der  BürgerInnen, die Populismus unterstützten, wird von derselben neoliberalen Wirtschaftslogik produziert, mit der Populismus problemlos zusammenleben kann, wenn seine VertreterInnen politische Verantwortungen übernehmen.

Strategien: Das Ziel diktiert den Weg

Wie kann Homogenität in Gesellschaften entstehen, die immer verschiedener und kulturell vielfältiger sind? Diese Homogenität kann nur konstruiert werden. Wie? Populisten wissen, dass politische Herrschaft auf kultureller Herrschaft baut. (Villacañas)

Die Sprache ist das Werkzeug, mit dem im Populismus Homogenität geschaffen wird. Es geht aber nicht um eine argumentative Sprache, sondern vielmehr um Emotionen, denn durch Emotionen werden Menschen kollektiv mobilisiert. Insbesondere, wenn ganz klar definiert wird, wer dazugehört und wer nicht. Daher die Bedeutung von Expressionismus: Gefühle, Werte und Identifizierungen werden immer wieder ausgedrückt und inszeniert.

Mit Argumenten wird dafür salopper umgegangen. Wichtig im populistischen Sprachgebrauch ist die Rhetorik; sie muss Biss haben, selbst wenn diese auf Halbwahrheiten, falschen Argumenten (fallacies) oder sogar auf fake news (etwa, dass der Kandidat zum Bundespräsidenten schwer krank oder an der Schwelle einer Demenz sei) baut.

Manichäismus ist der Eckstein populistischer Rhetorik. Die Trennlinie zwischen „wir“ und „die anderen“ kann hier und da angepasst werden, sie muss aber immer existieren, denn sie verschafft die Kohäsion des „Volkes“, d. h. jenes Teils der Gesellschaft, der die Herrschaft für sich allein beansprucht. Populistische Sprache ist kuschelig nach innen und scharf nach außen.

Für populistische Zwecke ist eine intelligente und systematische Anwendung von Propaganda unbedingt erforderlich. Diese Propaganda zielt nicht darauf ab, Partikularinteressen im Rahmen eines sozialen Dialogs besser zu vertreten (was an sich legitim wäre), sondern vielmehr darauf, durch ständige Präsenz in der öffentlichen Meinung auffällig zu werden und  die maximale Kontrolle der res publica  zu erreichen. Umberto Eco hat einige dieser Strategien beobachtet. Zu diesen zählen beispielweise:

  • Platte, nicht unbedingt wahre Äußerungen, die nicht geglaubt werden sollen, aber leicht in Erinnerung bleiben.
  • Auffällige Äußerungen (Mauer zwischen Mexiko und  den USA). Wichtig ist die Allgegenwärtigkeit des Leaders in der Öffentlichkeit.
  • Monopolisierung gemeinsamer Werte: „Wir sind die Einzigen, die an die Heimat denken oder das Christentum verteidigen.“
  • Extreme verbale Aggressivität gegenüber Gegnern und dafür Klage über die eigene Verfolgung („wir werden ausgegrenzt“).
  • Ständiger Appell an kollektive Heimatgefühle durch Aktivierung von Emotionen (Fahnen, Musik, Umzüge usw.)
  • Ständiger Bezug auf ein Komplott. Identifizierung eines vermeintlichen Feindes, der versucht, das Land zu ruinieren oder zu vernichten.
  • Dämonisierung des Gegners

Volk und Leader

Für eine solche politische Vision sind komplexe Begriffe à la Habermas wie etwa Verfassungspatriotismus definitiv zu abstrakt. Darüber hinaus eignen sich Konzepte zu einer unerwünschten Vielfalt von Interpretationen. Leader hingegen sind immer konkret. Durch die Konvergenz der Zuneigung und Anhängerschaft so vieler Individuen in ihrer Person schaffen sie die soziale Kohäsion des Volkes. Die wichtigste Funktion des Leaders ist es, das Volk zu verkörpern.

Diese Logik steht hinter den Versuchen, Institutionen zu relativieren oder ihre Kompetenzen zu begrenzen:  Sie seien zu anonym, sie erschweren die direkte Kommunikation in der Dyade Volk–Leader.

Populisten sind immer die anderen

Taguieff warnte schon lange: Populismus rückt in die Mitte! Altkanzler Vranitzky sagte einmal, dass „politisches Leben kein Mädchenpensionat“ sei. Das Parkett der Politik war immer hart und sehr häufig unfair. Etablierte Parteien sind heute aber versucht, zu wirksamen populistischen Strategien zu greifen, um Wahlen zu gewinnen. Das ist auch Populismus.

Solche Strategien können zwar kurzfristig erfolgreich sein, mittelfristig sind sie aber schädlich. Wie partikularistische Interessen oder krankhafter Protagonismus führen sie in unterschiedlichem Ausmaß, je nach konkretem Fall, unweigerlich zur Aushöhlung der Demokratie.

Aufstand gewisser Emotionen

Merkwürdig,  wie manche Phänomene, die uns sehr aktuell vorkommen, im Grunde nichts Neues sind! In seiner Reflexion über die Zwischenkriegszeit (1918–1939) erklärt der Historiker René Remond die Krise der damaligen demokratischen Regimes, weil diese in einigen Ländern  – wie Ungarn, Tschechoslowakei – als „zu neu“ (unerfahren), in anderen – Großbritannien, Frankreich – als „zu alt“ (träge, unfähig) erschienen, um damalige Krisen zu meistern.

Um an die Macht heute zu gelangen, müssen PopulistInnen auf BürgerInnen zählen, die entweder eine sehr defizitäre Erfahrung von repräsentativer Demokratie haben oder von dieser repräsentativen Demokratie und ihren VertreterInnen zutiefst enttäuscht sind. Hier lohnt sich ein Perspektivenwechsel, um kurz über Emotionen und ihre politische Rolle nachzudenken.

Seit Antonio Damasio (1994) wissen wir, dass wir nicht so rational unterwegs sind, wie wir glauben. Vielmehr gibt es eine innige Verbindung zwischen unseren Emotionen (d. h. unbewussten Gefühlen) und unserer Denkweise. Emotionen, Gefühle, Gemütsstimmungen … all diese inneren Befindlichkeiten nicht rationeller Art sind überaus wichtig, um in Kontakt mit der Realität im Privatbereich und auch im sozialen Leben zu kommen. Generell könnte behaupten werden: Je mehr Menschen ihre Emotionen verarbeiten, desto erfahrener, reifer, ausgewogener werden sie bei ihren Urteilen.

Aus diesen Gründen sind Emotionen immer sozial relevant. Sehr oft sind sie positiv, wie etwa Sympathie, Mitleid, Identifizierung. Emotionen können aber auch negativ wirken. Heute stellen unterschiedliche Fachleute das Vorhandensein weit verbreiteter Ängste unter der Bevölkerung in den EU-Ländern fest, nämlich Angst vor dem Verlust des erworbenen Wohlstandes sowie Angst vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität. Bis dato geht es um eine signifikante Minderheit, die Tendenz steigt aber.

„Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten. Wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. Dass das weitgehend unbemerkt geschehen ist, ist kein Trost. (…)

Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst – Angst vor Veränderung, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt – zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht.“

(Tony Judt, Dem Land geht es schlecht. 2011, Hanser, S. 17)

Phänomene wie Wirtschaftskrisen, häufige oder schwerwiegende Fälle von Korruption, ineffiziente Institutionen, sichtbare Verstöße gegen das proklamierte Prinzip der Gleichbehandlung fördern auch Enttäuschung und Empörung. Auf diese folgen etwa allgemein verbreitete Interesselosigkeit, Sehnsucht nach einem starken Führer, Anzeichen von Sozialdarwinismus und Fremdenfeindlichkeit, wechselseitige Entfremdung zwischen einer politischen Klasse und dem Rest der BürgerInnen. Und das ist gerade der Wind, mit dem Populisten segeln.

Negative Emotionen sind neurologisch gesehen primärer und leichter wachzurufen als positive. Es fällt auch schwerer, diese negativen Emotionen zu verarbeiten. Verunsicherung verlangt nach Sicherheit und sogar nach Geborgenheit. Empörte Leute neigen dazu, sofort Schuldige zu identifizieren. Dazu nur ein trauriges Beispiel: Am 17. August fand das Attentat auf den Ramblas von Barcelona statt. Zwei Tage darauf war auf den Straßen und in den sozialen Netzen Spaniens eine Mauer von Islamophobie sichtbar, gegen die allerlei Argumente – zumindest kurzfristig – anprallten. Wie wir alle mit weit verbreiteten negativen Emotionen umgehen, ist politisch sehr relevant. Solche Emotionen zu benutzen, um die Dynamik „wir“/„die anderen“ aufrechtzuerhalten, ist schlicht antidemokratisch.

Demokratie … aber welche?

Seit dem Sieg der Totalitarismen im Jahre 1945 ist Demokratie eine Art kultureller Selbstverständlichkeit geworden. Überall auf der Welt handeln PolitikerInnen in ihrem Namen. Sogar Diktatoren und autokratische Staatsleute tun dies. Was aber ist dann Demokratie?

Demokratie ist das einzige politische System, das viel mehr erfordert als die passive Akzeptanz der BürgerInnen. Das ist etwas Besonderes, was es bei keinem anderen politischen System gibt.

  • Ein demokratischer Konsens impliziert, dass Menschen zusammenleben wollen und damit einverstanden sind, ihre Souveränität nach bestimmten Grundregeln und über gewisse Kanäle – Institutionen – zu artikulieren. Das ist eben eine „repräsentative“ Demokratie.
  • Demokratische Systeme können nur dort bestehen, wo die BürgerInnen eine demokratische Kultur verinnerlichen, teilen und sich am Leben der „Republik “ (res publica) beteiligen. Die Grundlagen dieser demokratischen Kultur sind die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz, die in einem Land leben; die saubere Trennung der legitimen Gewaltformen; ein offener sozialer Dialog als Mittel zum Umgang mit Interessenkonflikten; sozialer Zusammenhalt.

Hier geht es um viel mehr als um Schönreden: Werden diese erwähnten Prinzipien nicht respektiert, dann wird die Demokratie unweigerlich ausgehöhlt, selbst wenn ihre klassischen Institutionen bestehen bleiben.

In dieser Hinsicht behaupten einige ExpertInnen, dass populistische Parteien heute in Europa in erster Linie ein Warnsignal sind. Ihre Präsenz und ihr Wort decken schonungslos einige Widersprüche und Mankos der repräsentativen Demokratie auf. Warnsignale ernst zu nehmen, tut immer gut. Denn was die BürgerInnen heute dringend benötigen, sind neue Wege und Formeln, um aktuelle Herausforderungen so gut es geht in einem echten, möglichst breiten sozialen Konsens zu meistern. Insbesondere, wenn diese neuen Wege zuweilen schmerzhaft sein können.

Autorin:

Paloma Fernández de la Hoz
Historikerin, Pädagogin, Sozialwissenschafterin, Kooperationspartnerin der ksoe

 

Literatur:

Populismus
Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 5-6/2012): Populismus (als PDF-Datei frei zum Herunterladen: http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/APuZ_2012-05-06_online2.pdf . Zugriff: 4.8.2017)

Diehl, P. Die Komplexität des Populismus. In: Totalitarismus und Demokratie 8 (2011), 2, pp. 273-291. (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-326313 .  Zugriff: 4.8.2017).

Eco, U. (2007): Im Kerbsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus. München: Hanser.  (Siehe S. 106–138.)

Holtmann, E u.a. (2006): Die Droge Populismus. Wiesbaden: SV.

Laclau, E. (2005): La razón populista. Buenos Aires: FCE. (2005: On Populist Reason. London: Verso Books)

Taguieff, P.A. (2002): L’illusion populiste. Paris: Éditions Berg International.
Taguieff, P.A. (2012): Le nouveau national populisme. Paris: CNRS.

Villacañas, J.L. (2015): Populismo. Madrid: La Huerta Grande.

Interview mit Karin Priester am 25.7.2017: „Populisten sind eigentlich Reformer“

Emotionen
Damásio, Antonio (1994): Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List. Interview mit A. Damasio am 4. Juni 2014: „Ohne Gefühle lernt man nichts“

Nussbaum, Martha (2001): Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions. Cambridge University Press (Interview).

Ebenfalls empfehlenswert
Für Interessierte an die grenzenlosen Möglichkeiten falscher Argumentationsformen siehe: Master list of logical fallacies (http://utminers.utep.edu/omwilliamson/engl1311/fallacies.htm. Zugriff: 4.8.2017).

 

Hans Schelkshorn: Verteidigung des christlichen Abendlandes? Die Neue Rechte und das Christentum

 

Nur wenige Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer steht in den Kernstaaten der westlichen Welt der demokratische Rechtsstaat in Frage. Der Wahlsieg von Donald Trump hat die republikanische Ordnung der USA erschüttert. In Europa sind neo-rechte Bewegungen zu einer ernsthaften Herausforderung für die etablierten Parteien und das Friedensprojekt der EU geworden. Trotz aller inhaltlichen Differenzen liegt neorechten Parteien eine gemeinsame ideologische Matrix zugrunde, deren Elemente bereits in früher Zeit von Alain de Benoist, dem Begründer der Nouvelle Droite in Frankreich, entwickelt worden sind. Die Neue Rechte muss sich nach de Benoit von zwei Dogmen des alten Faschismus befreien, nämlich der Option für eine gewaltsame Beseitigung der Demokratie und der Ideologie des biologischen Rassismus, der die Menschheit in Herrenrassen und Untermenschen unterteilt. Im Gegensatz zum Faschismus der 1930er Jahre strebt nach de Benoist die Neue Rechte eine radikale Reform der Demokratie an und ersetzt den alten Rassismus durch einen Ethnopluralismus. Die Welt ist nach de Benoist ein Pluriversum raumgebundener Ethnien und Kulturkreise, die in gleichberechtigter Koexistenz zueinander stehen. Das Ziel einer neorechten Politik ist nach de Benoist der Rückbau der menschenrechtlich fundierten, pluralen Demokratie in eine ethnische Bürgergemeinschaft nach dem Vorbild der athenischen Polis. Die Menschenrechte werden als ideologisches Produkt des Christentums und der Aufklärung zurückgewiesen. Die Staatsbürgerschaft beruht auf dem Abstammungsprinzip; der linken Berufung auf die Menschenrechte wird das „Recht auf Heimat“ entgegengehalten.

Obwohl die neorechte Ideologie auf einer völkischen, antichristlichen Ideologie aufbaut, sind in jüngerer Zeit zahlreiche Allianzen zwischen Christ(inn)en und rechts-populistischen Parteien entstanden. In Ungarn können wir derzeit sogar das Experiment eines völkischen Umbaus des Staates beobachten. Das Christentum wird mit der Nation verschmolzen: „Von dem Augenblick an, wo wir als Ungarn auf die Welt kommen, schließen unsere sieben Stämme“ – so Viktor Orbán – „den Blutbund, gründet unser heiliger Stephan den Staat.“ Die Menschenrechte sind nach Orbán bloß nette, aber letztlich zweitrangige Themen, der Kosmopolitismus eine liberale Ideologie. Die christliche Verbrämung der Ideologie der Neuen Rechten mündet in einen Selbstwiderspruch. Denn der moderne Kosmopolitismus ist im 16. Jahrhundert durch die „Schule von Salamanca“, d.h. durch eine christliche Philosophie, begründet worden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts haben inmitten der Barbarei des Faschismus christliche Denker wie Jacques Maritain wichtige Grundlagen für eine plurale Demokratie und die UN-Deklaration über die Menschenrechte gelegt. Die Würde der menschlichen Person transzendiert, wie Maritain gegenüber den völkischen Ideologien seiner Zeit betonte, alle geschichtlichen, auf Abstammung gegründeten Gemeinschaften. Die normative Vorgängigkeit der Person stellt nach Maritain das relative Recht gewachsener Formen der Gemeinschaft keineswegs in Frage. Auch Maritain ist ein Kritiker eines Liberalismus im Sinne eines bindungslosen Individualismus. Wenn jedoch die ethnische Gemeinschaft über der Person steht, gibt es nach Maritain gegenüber dem politischen Totalitarismus kein Bollwerk mehr. Aus diesem Grund muss nach Maritain die antike „Bürgerfreundschaft“ durch „eine stärkere, umfassendere Liebe, eben die brüderliche Liebe“ ergänzt werden. Auf den christlichen Kirchen lastet noch heute das schwere Erbe der Allianzen mit den faschistischen Systemen des 20. Jahrhunderts. Die Neue Rechte stellt das Christentum erneut vor eine historische Herausforderung, in der nicht weniger als der universalistische Kern christlicher Moral auf dem Spiel steht. Darüber hinaus stellen die neorechten Verteidiger des „Christlichen Abendlandes“ paradoxerweise die zentralen Errungenschaften europäischer Kultur, nämlich rechtsstaatliche Demokratie und Menschenrechte, in Frage. Die Antwort auf den politischen Islam kann jedoch nicht in einer völkischen Ideologie und einem christlichen Autoritarismus bestehen, die die späte Versöhnung zwischen Christentum und Demokratie desavouieren. Die schonungslose Kritik an eigenen antidemokratischen Traditionen ist heute eine der zentralen Aufgaben in der je neu zu leistenden Selbstaufklärung des Christentums. Denn unheilige Allianzen mit neorechten Bewegungen werden – dies kann schon jetzt mit Sicherheit gesagt werden – die Glaubwürdigkeit des Christentums in Europa auf Jahrzehnte hin beschädigen. In einer Rede vor den Dominikanern in Paris rief Albert Camus 1946 die Christ(inn)en auf, ihre Bündnisse mit dem Faschismus zu beenden und sich am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, einer „Civitas des Dialogs“, zu beteiligen. Im Kampf gegen antidemokratische Mächte dürfe sich nach Camus das Christentum nicht länger „die Tugend der Auflehnung und der Empörung … die ihm vor langer Zeit eigen war“, entreißen lassen, um nicht noch einmal „der vervielfachten Hinopferung des Sokrates beizuwohnen“. Durch den Aufstieg der Neuen Rechten hat Albert Camus‘ Appell an die Christ(inn)en eine neue Aktualität gewonnen. Die lateinamerikanischen Theologien der Befreiung haben bereits vor Jahrzehnten die christlichen Quellen prophetischer Kritik neu erschlossen. Vor diesem Hintergrund ist es wohl kein Zufall, sondern eher ein bemerkenswertes „Geschichtszeichen“, dass Franziskus, d.h. der erste Papst aus Lateinamerika, die europäische Christenheit an die menschenrechtlichen Grundlagen der europäischen Demokratie und an den Kerngehalt der christlichen Moral erinnern muss.

(Auszüge aus dem Vortrag anlässlich der Vollversammlung des Katholischen Akademiker/innenverbandes vom 20.6. 2017; der vollständige Text erscheint im September in: Walter Lesch (Hg.), Christentum und Populismus: Klare Fronten? Verlag Herder 2017)

Hans Schelkshorn
ist designierter Vorsitzender des Forums Zeit und Glaube / Katholischer Akademiker/innenverband Wien und lehrt am Institut für Christliche Philosophie der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien.