Thilo Sarrazin greift in seinem neuen Bestseller „Feindliche Übernahme“ den Islam frontal an. Keine Empfehlung, dieses Buch auch zu lesen.
„Diese wirklich dummen Muslime“
Von Otto Friedrich
Man muss zugeben, dass einem nach der quälenden Lektüre der knapp 500 Seiten von Thilo Sarrazins neuem Bestseller „Feindliche Übernahme“ angst und bang werden kann: Nicht zuletzt die in extenso ausgebreiteten Kriminalstatistiken, nach denen jedenfalls in Deutschland die „muslimische“ Kriminalität enorm zugenommen habe, was auch mit Einzelbeispielen drohend untermalt wird, lassen den Leser arg beklommen zurück.
Der Rezensent muss aber auch konzedieren, dass er weder über die Bewertung von Kriminalstatistiken noch der diesbezüglichen deutschen Lage ausreichende Expertise verfügt. Aber es gibt solche längst nachzulesen – etwa jene des Bochumer Kriminologen Thomas Feltes in der Frankfurter Allgemeinen vom 31. August, der kein gutes Haar an Methodik und Schlussfolgerungen des bekanntesten deutschen Kulturpolemikers lässt.
Erkenntisverhindernder Zugang
Dem vernichtenden Urteil des Kriminalexperten kann der Rezensent ähnliche eigene Bewertungen anderer Teile des Buches beigesellen: Sarrazin sucht auch in seinem neuen Opus sein eigenes und das eines Gutteils seiner Leser bestehende Unbehagen zu bestätigen – und zwar gegenüber dem Islam, der, wie der Untertitel des Buches suggeriert, „den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“.
Nun soll keinesfalls bestritten werden, dass es rund um den Islam und die Muslime vieles anzufragen und zu kritisieren gibt, aber eine derartige Generalabrechnung, die dieser Religion durchgängig das Attribut „rückständig“ verleiht und den Muslimen keine Möglichkeit zur Weiterentwicklung zugesteht, hat man doch noch selten so gelesen – wenn auch pointiert und mit erwartbarer Verve vorgebracht.
Dabei ist Sarrazins Zugang schon im Grundsatz erkenntnisverhindernd. Der streitbare Publizist hat sich hingesetzt, den Koran von A bis Z (auf Deutsch!) gelesen – und ohne viel Federlesens seine Schlüsse gezogen. Dass er dabei entdeckt, dass diese Schrift unsystematisch aufgebaut ist und viele Wiederholungen aufweist, hätte er von jedem Studenten der Religionswissenschaft im ersten Semester erfahren können. Abgesehen von allerlei Fehlern (er spricht z.B. von 113 Suren des Koran, obwohl es tatsächlich 114 sind) kann auch keine Rede davon sein, dass er, wie er behauptet, den Koran „einer unvoreingenommenen und gesamthaften Lektüre“ unterzogen hat. Was auch die aktuelle westliche Islamwissenschaft in jahrzehntelanger Analyse nicht zusammengebracht hat (die islamische Gelehrsamkeit gilt Sarrazin sowieso als 14 Jahrhunderte lange Perpetuierung der Rückständigkeit), erschließt sich diesem Autor im Schnellverfahren: Es „kann kein Zweifel bestehen“, schreibt er, „dass es sich um einen in weiten Teilen aggressiven Text handelt, der die Liebe Gottes auf die Gläubigen beschränkt, deren Abgrenzung zu den Ungläubigen betont und ein reaktionäres Gesellschaftsbild vermittelt“.
Sarrazin lässt in allen Facetten kein gutes Haar an dieser Religion: Das Bilderverbot habe im islamischen Bereich zu einer Verödung der Künste geführt, es gab „nie“ eine „selbständige islamische Baukultur“, es gab keine relevante wissenschaftliche Innovation aus dem islamischen Bereich, die über die „passive Verwaltung der eroberten Wissensbestände“ hinausging. Dafür perpetuiere der Islam eine gewalttätige Unterwerfungsideologie, unterdrücke per se die Frau – all das führe zu einem Überlegenheitsgefühl gegenüber allen anderen Religionen und Weltanschauungen und gleichzeitig zu einem globalen kognitiven Defizit.
Ähnlich wie mit der Kriminalstatistik, aber diesmal gleich weltweit sucht Sarrazin nachzuweisen, dass Muslime, salopp gesagt, dümmer als Christen, Ostasiaten oder Europäer sind; dieser kognitive Defizienzgürtel zieht sich durch Geschichte und Geografie – und bedrohe nun Europa. Auch in Deutschland seien diese Defizite der Grund für die Rückständigkeit der Muslime und für soziale Verwerfungen, die sich daraus ergeben.
Kognitive Defizienz der Muslime?
Die Unterdrückung der Frau – auch sie ist laut Sarrazin zentral für die Rückständigkeit des Islam – führe dazu, dass ihre Aufgabe auf Familie und Kinderkriegen fokussiert sei, weswegen islamische Gesellschaften global Bevölkerungsexplosionen hervorrufen würden. Sarrazin führt dazu aus, dass wissenschaftlicher Fortschritt, zu dem die Muslime eben nichts beigetragen hätten, etwa zur Senkung der Kindersterblichkeit geführt habe – aber als Folge davon würden nun die muslimischen Massen Europa und die Welt bedrohen.
All dem liegt für den Autor ein gewalttätig-kriegerischer Impetus zugrunde, der dem Koran immanent sei. Und er kritisiert die wörtliche Auslegung der koranischen Schriften, die bis heute den Mainstream bilde. Pauschal bestreitet Sarrazin, dass der Islam wesentliche kulturelle Leistungen hervorgebracht habe, und wo es scheinbar welche gebe – etwa in der mittelalterlichen Mathematik –, habe er sie von anderen Kulturen übernommen, aber auch nur dann, wenn es für die Errichtung seines Herrschaftssystems dienlich war.
Analog bestreitet Sarrazin auch, dass die griechische Philosophie via muslimische Gelehrte ins christliche Mittelalter gerettet wurde. Es mag ja sinnvoll sein, derartige Narrative auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen, aber dann müssten die Behauptungen auch einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielten. Gerade daran hapert es – das erwähnte Beispiel belegt Sarrazin, wenn man sich die Mühe macht, auch die Fußnoten zu lesen, lediglich mit einem kurzen Beitrag, der im islamkritischen Blog „Achse des Guten“ erschienen ist. Daneben zitiert er noch einen Wolfgang Kania, dessen diesbezügliche Kompetenz etwa als Historiker auch nicht nachvollziehbar ist, weist ihn die entsprechende Fußnote nur als Leserbriefschreiber an die FAZ aus. Auch dass sich Sarrazin bei der Darstellung von Entwicklungen in der Frühzeit des Islam an die Propyläen Weltgeschichte aus 1963 und die Fischer Weltgeschichte aus 1968 hält, zeigt, dass er sich nicht um den aktuellen Stand der Geschichtsforschung zum Thema kümmert.
Sarrazin fasst seine Sicht auf den Islam in den drei Punkten „expansive Eroberungskraft“, „technisch-zivilisatorischer Rückstand der islamischen Welt“ und „demografische Expansion“, die eben für Deutschland und Europa eine Gefahr darstellten, zusammen.
Und er leugnet zwar die auch in Deutschland präsenten Versuche nicht, die Koranexegese von einer wörtlichen Interpretation zu einem den geschichtlichen Kontext in den Blick nehmenden Zugang zu verändern. Er tut diese aber als völlig irrelevant ab und desavouiert damit etwa die Arbeiten des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide, dem er vorhält, sich weit von den Aussagen des Korans zu entfernen – ein Vorwurf, den sich Khorchide auch von seinen salafistischen Kritikern ständig anhören muss.
Oberflächlich und vorgefasst
Sarrazins Kritik am heutigen Mainstream-Islam enthält zwar viel Wahres. Problematisch sind seine Auslassungen aber, weil er in Bezug auf den Islam einem völlig kulturpessimistischen Ansatz frönt, der den Muslimen so gut wie keine Entwicklungsmöglichkeit zugesteht, wenn sie sich nicht fundamental von ihrer Religion abwenden. Das ist, neben der oberflächlichen Darstellung und Analyse, die vor allem seine Vorgefasstheit stützt, der Hauptvorwurf, der dem Buch zu machen ist.
Es gibt ersprießlichere und seriösere kritische Bücher zum Islam, etwa Michael Blumes „Islam in der Krise“ (2017), die nicht alles besser wissen und den Westen ausschließlich im Gestus kultureller, kognitiver und zivilisatorischer Überlegenheit begreifen. Aus Blumes lesenswertem Buch pflückt sich Sarrazin gerade ein Schlagwort heraus, ohne sonst darauf einzugehen.
Anstatt Sarrazins Pamphlet sollte man eine andere Neuerscheinung zur Hand nehmen. Der von deutschen Medien als „Popstar der Salafisten“ gebrandmarkte Imam Abdul Adhim Kamouss erzählt in „Wem gehört der Islam?“ berührend und nachvollziehbar seinen Wandel vom unreflektierten Prediger, der feststellen musste, wie einige seiner Schüler islamistisch radikalisiert wurden, zum Reformer, der einem undogmatischen demokratie‑kompatiblen Islam das Wort redet. Sarrazin, bei dem Kamouss nicht vorkommt, würde wohl auch ihn unter die liberalen Träumer einreihen. Und die Salafisten sehen in Kamouss sowieso den Abtrünnigen. Aber man sollte Leuten wie ihm mehr Aufmerksamkeit schenken als den dystopischen Niedergangsszenarien, denen sich Sarrazin in seinem Buch erneut hingibt.
Feindliche Übernahme
Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht.
Von Thilo Sarrazin. FinanzBuch Verlag 2018. 496 Seiten, geb., e 25,70
Wem gehört der Islam?
Plädoyer eines Imams gegen
das Schwarz-Weiß-Denken.
Von Abdul Adhim Kamouss. dtv 2018.
224 Seiten, kt., e 17,40
Quelle: DIE FURCHE • 37 | 13. September 2018
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